Stellen Sie sich einmal kurz vor, die italienische Regierung würde beschließen, den Petersdom in Rom von einem Tag auf den anderen nur noch für zahlende Touristen zugänglich zu machen und zugleich den gläubigen Katholiken das Beten in der Kirche verbieten. Diese dürften im Dom – einem der wichtigsten Pilgerziele für Katholiken überhaupt – höchstens noch zu Ostern oder Weihnachten ihre Gebete verrichten.
Was in unseren Ohren wie eine unvorstellbare Entweihung klingt, passiert so ähnlich gerade in der Uigurenregion Ostturkestan (Xinjiang). Dort haben die chinesischen Machthaber Berichten zufolge die historische Moschee Id-Kah-Moschee in Kashgar für Touristen geöffnet, gläubigen Muslimen hingegen außer an bestimmten heiligen Tagen und zu Propagandazwecken das Beten verboten.
So sollen die chinesischen Behörden kleinen Gruppen älterer Gläubiger das Beten während des Ramadan und anderer heiliger islamischer Tage oder zu Propagandazwecken erlauben, wenn sie Besuche von Würdenträgern aus anderen Teilen der Welt arrangieren. Auf diese Weise solle der Eindruck erweckt werden, dass Uiguren das Beten nicht verboten sei.
Die Id-Kah-Moschee ist im Rahmen des harten Vorgehens der chinesischen Machthaber gegen die Religion und Kultur der Uiguren in Ostturkestan bereits seit 2016 größtenteils für den Gottesdienst geschlossen. Immerhin aber blieb das Gebäude erhalten, wenn auch nur als leere Hülle.
Denn seit etwa 2017 sollen nach Angaben des Uyghur Human Rights Project in Ostturkestan bis zu 16.000 Moscheen, d. h. etwa 65 % aller Moscheen, als Folge der Regierungspolitik zerstört oder beschädigt worden sein. Ironischerweise hält dies die chinesischen Behörden nicht davon ab, ausgerechnet unter Verweis auf die „gut bewahrten kulturellen Traditionen aller ethnischen Gruppen“ für touristische Reisen in die Region zu werben.
Tourismus und Unterdrückung ergänzen sich bestens
Tatsächlich ist dies nur ein scheinbarer Widerspruch. Denn aus Sicht Pekings ergänzen sich die Unterdrückung von Religion und Kultur der lokalen Bevölkerung bestens mit einer Ausweitung des Tourismus. Dahinter steckt eine Strategie der Machthaber, die nicht nur in Ostturkestan, sondern auch in Tibet zur Anwendung kommt.
In beiden Fällen will Peking die Kontrolle über die nicht-chinesischen Regionen sichern und zugleich die Kultur und die Bewohner der Region so umgestalten, dass sie den chinesischen Teilen der Volksrepublik immer ähnlicher werden – die Idee der „ethnischen Verschmelzung“ lässt grüßen.
In einem Artikel von „Foreign Policy“ erscheint der Tourismus so als eine Möglichkeit, „Xinjiang mit Traditionen und Bräuchen aus anderen Teilen Chinas ‚kulturell aufzufüllen‘ und den Einwohnern eine einheitliche chinesische Identität zu vermitteln“.
Diejenigen, deren Kultur und Erbe als Grundlage für profitablen Tourismus genutzt werden, hätten „keine Möglichkeit, ihre eigenen Wünsche bezüglich der Darstellung ihrer Kultur und ihres Erbes durchzusetzen“, so eine westliche Wissenschaftlerin in dem Artikel. Ein Kollege von ihr ergänzt: „Das ist wirklich das Hauptproblem: Das Problem des Rechts, die eigene Kultur zu besitzen.“
Die chinesische Regierung versuche, ein touristisches Erlebnis zu schaffen, bei dem Ostturkestan „so anders ist, dass es sich lohnt, vielleicht mehr Geld für den Flug auszugeben, aber nicht so anders, dass sich han-chinesische Touristen fehl am Platz fühlen“.
Chinesische Touristen werden gegenüber buddhistischen Gläubigen bevorzugt
Im Grundsatz ist die Lage in Tibet nicht anders, wie etwa die Entwicklung im buddhistischen Studienzentrum Larung Gar gezeigt hat. Und daran, dass selbst die heiligsten Orte des tibetischen Buddhismus vor allem dem chinesischen Tourismus zu dienen haben, kann kein Zweifel bestehen, wie sich anschaulich im historischen Zentrum von Tibets Hauptstadt Lhasa besichtigen lässt.
So führten die chinesischen Behörden bereits vor zwei Jahren im Jokhang-Tempel neue Regeln ein, um die Besuchszeiten von Pilgern und Touristen separat zu regeln, wobei Letztere klar bevorzugt wurden.
Die neuen Regeln gestatteten den buddhistischen Gläubigen, den Tempel von 8.00 bis 11.30 Uhr (dreieinhalb Stunden), zu besuchen, während er den überwiegend chinesischen Touristen von 12.00 bis 19.30 Uhr (siebeneinhalb Stunden) offen stand. Dass damit übrigens auch Vorgaben missachtet wurden, die sich aus dem Status als UNESCO-Weltkulturerbe ergeben, führte zu keinerlei Konsequenzen.
Parallel zur Förderung des Tourismus in Tibet hat die herrschende KP ihre Kontrolle über Klöster und Tempel weiter ausgebaut, wie im vergangenen Jahr ein Filmbeitrag des ZDF anschaulich erläuterte: „Auch an den heiligsten Stätten der Tibeter ist die Kommunistische Partei allgegenwärtig“, hieß es darin:
„Sie beten noch im Jokhang Tempel, doch wer für ein Staatsunternehmen arbeiten will, muss der Religion abschwören. Chinesische Touristen sind in den Tempeln oft in der Überzahl, Buddhismus wird zur Folklore. Die Mönche werden überall streng überwacht, die Partei hat ihre Strukturen auch den Tempeln übergestülpt, der Parteisekretär hat das Sagen.“
Man darf sich also nicht täuschen lassen durch die chinesische Inszenierung Lhasas als Touristenidylle wie in dem hier verwendeten Bild der Staatsmedien. In dem tibetischen Gewand steckt in Wahrheit eine Chinesin, und so schimmert in dem Propagandabild eine tiefere Wahrheit durch: die Tibeter sollen nach dem Willen der KP selbst zu Chinesen werden, ihre Religion und Kultur werden alleine als exotisch anmutende Kulisse für die chinesischen Touristen benötigt.