ICT-Interview zu
Chinas System von
Zwangsinternaten

 

Foto: ICT

Lhadon Tethong ist Mitgründerin und Direktorin des Tibet Action Institute. Gemeinsam mit dem tibetischen Erziehungswissenschaftler Dr. Gyal Lo versucht sie erfolgreich, die Weltöffentlichkeit auf das chinesische System von Zwangsinternaten für tibetische Kinder aufmerksam zu machen. Für Ihr Engagement wurde sie von ICT im März mit dem Menschenrechtspreis „Schneelöwe“ ausgezeichnet. Das Interview mit Lhadon Tethong und Dr. Gyal Lo entstand am Rande der Preisverleihung in Berlin.

ICT: Gab es eine Art Initialzündung, die sie bewogen hat, sich für Tibet zu engagieren?

Lhadon Tethong: Meine Eltern und unsere Familie lebten in einer sehr kleinen Gemeinde in Kanada, wo ich an der Westküste Kanadas auf Vancouver Island aufwuchs. Ich glaube, alle tibetischen Kinder werden dazu erzogen, Aktivisten zu sein, vor allem, weil wir im Westen waren und es nicht viele Tibeter gab, also mussten wir unsere Gemeinschaft vertreten. Jedes Mal, wenn wir nach unserem Namen gefragt wurden, mussten wir erklären, woher er kommt und was er bedeutet, und wir erzählten unsere Geschichte auf diese Weise. Es war also ein ganz natürlicher Teil meines Lebens, als ich aufwuchs, und meine Eltern waren sehr aktiv und gaben uns ein Vorbild.

Dr. Gyal Lo: Eigentlich bin ich Akademiker, ich forschte im Bereich Bildung und Soziologie, ich hatte eine Professur in Yunnan, an der Universität in Yunnan, aber leider haben mich die Chinesen aus Mangel an politischer Loyalität entlassen. Bevor ich meine Heimatstadt verließ, wurde ich von vielen Leuten zum Abschiedsessen eingeladen, und die Leute sagten: „Du gehst jetzt wirklich weg, also vergiss uns nicht, wenn du gehst.“

ICT: Beschreiben Sie bitte Ihre gegenwärtige Arbeit. Was sind im Moment Ihre Schwerpunkte?

GL: Mein Hauptaugenmerk liegt darauf, die internationale Gemeinschaft auf das völkermörderische Instrument des kolonialen Internatssystems Chinas aufmerksam zu machen.

LT: Meine derzeitige Arbeit besteht darin, die internationale Aufmerksamkeit auf das Thema der kolonialen Internate Chinas in Tibet zu lenken und gleichzeitig das Tibet Action Institute, unsere Organisation, zu leiten. Innerhalb unserer Bewegung versuche ich, strategische Kampagnen durchzuführen, die zur Verwirklichung von Freiheit und Menschenrechten in Tibet beitragen. Dies kann auf viele verschiedene Arten geschehen, in jedem Fall aber durch gewaltlosen strategischen Aktivismus.

ICT: Wie sind Sie auf die Arbeit von Dr. Gyal Lo aufmerksam geworden? Wie kam der Kontakt zustande?

LT: Wir hatten das Glück, Dr. Gyal Lo nur wenige Wochen vor der Veröffentlichung unseres Berichts über die kolonialen Internate zu finden. Wir fragten ihn, ob er unseren Bericht durchlesen könne, um zu erfahren, was er von unseren Erkenntnissen hält. Er sagte uns, dass wir in allen Punkten Recht hätten, die Situation in Wirklichkeit aber noch viel schlimmer sei. Als Augenzeuge bestätigte er uns, dass es tatsächlich ein System von Internatsvorschulen in ganz Tibet gab, für das wir keine Beweise aus offiziellen chinesischen Quellen hatten. Er war es, der uns die Existenz dieser schrecklichen Realität bestätigte.

ICT: Wie bewerten Sie die Möglichkeiten, sich von außen ein realistisches Bild der Lage in Tibet zu machen?

LT: Es ist sehr schwierig, aber es ist möglich. Es erfordert mehr Engagement, vielleicht auch ein wenig Aktivistengeist, denn wenn man in einem traditionellen Sinne von Forschung und Analyse denkt, ist das in Tibet einfach nicht möglich. Als wir unseren Bericht geschrieben haben, hatten wir den Mut, diesen Weg zu gehen, weil wir Aktivisten sind und uns weigern, zu akzeptieren, dass es keinen Weg gibt.

GL: Die Umsetzung des Internatssystems begann 1995, zu dieser Zeit begannen wir wirklich ernsthaft, auf diese Schulproblematik zu achten. Im Jahr 2016 bin ich auf diese kolonialen Vorschulen aufmerksam geworden und habe dann drei Jahre lang, von 2017 bis 2019, jeden Sommer vor Ort Feldforschung betrieben. In dieser Zeit habe ich gut 50 Internatsvorschulen in der Region besucht.

ICT: Was macht das Internatssystem mit den Kindern in Tibet? Welche Folgen hat es für die tibetische Gesellschaft?

GL: Die Konsequenz ist ganz klar, sie versuchen, die Kinder von ihrer Geschichte, ihrer Kultur, ihrer traditionellen Lebensweise und ihren Familien abzuschneiden. Indem sie im Lehrplan diese Wissensebenen komplett ausklammern, assimilieren sie unsere junge Generation, so dass sie nicht in der Lage ist, ihre eigene Kultur zu leben.

LT: Ich bin Mutter von drei kleinen Jungen in genau diesem Alter. Sie sind zwischen vier und sieben Jahren alt, also dem jüngsten Alter der Kinder in den Internaten. Ich bin sehr besorgt über die emotionalen und psychologischen Auswirkungen auf die Kinder und die Eltern und Familien. Ich kann mir nicht vorstellen, wie schrecklich es für die Familien sein muss, diese leeren Häuser zu haben. Das bricht mir das Herz, der Gedanke daran bringt mich wirklich zum Weinen. Ich denke, die psychologischen Langzeitfolgen sind verheerend.

ICT: Was wünschen Sie sich von den Regierungen in Deutschland und Europa?

GL: Ich hoffe, dass Deutschland und die Länder der Europäischen Union sich stärker als bisher zusammenschließen, denn China hört immer auf die Starken und die Macht, aber nie auf die Schwachen und die Minderheiten.

LT: Ich denke, es muss Konsequenz haben für China, für das, was es unseren Kindern antut. Jeder bedauert heute, was den amerikanischen Ureinwohnern und den Kindern der Ureinwohner Australiens und Kanadas passiert ist. Das passiert jetzt den Tibetern. Es war damals nicht richtig, es ist sicherlich heute nicht richtig und es muss aufhören. Wir müssen einfach klar und deutlich sagen, dass dies falsch ist und aufhören muss.

ICT: Welche Botschaft haben Sie für die Unterstützer von ICT?

GL: Zunächst ist da die Hoffnung, dass sie ICT weiterhin unterstützen werden und auch die Hoffnung, dass ICT die Arbeit verstärken wird, um die tibetische Bewegung und die Unterstützung für Tibet in Zukunft voranzubringen.

LT: Ich weiß, dass viele Menschen Tibet schon seit langem unterstützen, und wir sind dankbar für diese langjährigen Unterstützer, die das wirklich tun, weil es das Richtige ist, ohne selbst einen Nutzen daraus zu ziehen.

ICT: Welche Bedeutung hat der Schneelöwe-Preis für Sie persönlich?

LT: Nun, eigentlich gebührt er nicht mir, sondern all den Menschen, die diese Bewegung angeführt haben, die uns innerhalb und außerhalb Tibets großgezogen haben, einschließlich seiner Heiligkeit dem Dalai Lama und unseren Eltern. Alles, was wir sind, ist ein Produkt dessen, was sie uns gelehrt haben. Wenn wir etwas richtig gemacht haben, dann ihretwegen.

 

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