Eine besondere Wahl
Es dürfte keine Übertreibung sein, den 20. März 2011 einen geschichtsträchtigen Tag zu nennen, insbesondere dann nicht, wenn man ihn in Verbindung mit dem 10. März sieht. Auf den ersten Blick mag dies verwirrend klingen, es ergibt jedoch schnell Sinn, wenn man sich vergegenwärtigt, wofür die beiden Daten stehen. Am 20. März fanden weltweit, zumindest jedoch dort, wo Tibeter außerhalb des Einflussbereichs der Volksrepublik China leben, die tibetischen Exilwahlen statt. Mehr als 83.000 volljährige Tibeterinnen und Tibeter hatten sich dafür registrieren lassen. Gewählt wurde in Indien und der Schweiz, in Belgien und den USA – überall wo Tibeter im Exil leben. (Eine ICT-Bildergalerie vom Wahlgang in Schweiz finden Sie hier.) Zu wählen galt es die 44 Mitglieder des 15. Exilparlaments der Tibeter und einen neuen „Kalon Tripa“, wie der Premierminister auf Tibetisch heißt. Die offizielle Bekanntgabe der Wahlergebnisse wurde von der Wahlkommission für den 27. April angekündigt.
Besonders auf den neuen Exilpremier dürften sich dann alle Blicke richten. Und das hat sehr viel zu tun mit der Botschaft, die der Dalai Lama zum Jahrestag des tibetischen Volksaufstands von 1959 am 10. März veröffentlichen ließ. Darin kündigte er an, seine in der tibetischen Exilverfassung festgelegten politischen Vollmachten auf die frei gewählte Vertreter übertragen zu wollen. Der Dalai Lama betonte jedoch, sich damit nicht seiner Verantwortung entledigen zu wollen. Im Gegenteil: Er bleibe auch weiterhin seiner Rolle im Einsatz „für die gerechte Sache Tibets verpflichtet“. Damit reagierte er auf die Bitten vieler Tibeter, seinen bereits vor Monaten angekündigten Schritt nicht wahr zu machen. Auf lange Sicht werde das tibetische Volk dies verstehen und akzeptieren, sagte der Dalai Lama. Nun gehe es darum, die tibetische Exilverfassung entsprechend abzuändern. (Die Erklärung des Dalai Lama finden Sie hier auf seiner offiziellen Webseite in englischer Sprache.)
Für eine Änderung der „Charta der Tibeter im Exil“ bedarf es einer Zwei-Drittel-Mehrheit im tibetischen Exilparlament, deren Zustandekommen keineswegs gewiss ist. Einen früheren Wunsch des Dalai Lama nach Übergabe seiner politischen Befugnisse, geäußert in einem Interview Ende vergangenen Jahres, hatte das tibetische Exilparlament im Januar mit einem Memorandum beantwortet, in dem er gebeten wurde darauf zu verzichten. In einer Diese Botschaft scheint angekommen zu sein, der Wunsch des Dalai Lama nach Änderung der Verfassung wird derzeit im Exilparlament diskutiert, auf den Ausgang der Beratungen darf man gespannt sein. Die International Campaign for Tibet wird Sie jedenfalls auf dem Laufenden halten. Unabhängig von dieser Entwicklung kann eines jedoch mit Gewissheit festgehalten werden: Die Tibeter haben allen Grund stolz zu sein auf die Entwicklung ihrer Demokratie im Exil.
Feiern und Gedenken
Losar, das tibetische Neujahrsfest, und der 10. März, der Jahrestag des tibetischen Volksaufstands von 1959 lagen in diesem Jahr so nahe beieinander wie selten. Begannen am 5. März die üblicherweise mehrtägigen Feiern zum Eintritt in das Jahr 2138, nach dem tibetischen Kalender das „Jahr des Eisenhasens“, so folgte bereits fünf Tage später das Gedenken an den Volksaufstand, in dessen Folge der Dalai Lama zusammen mit Zehntausenden Tibetern seine Heimat verlassen musste. Feiern und Gedenken“>Betrachtung zu Losar schrieb: „Auch dieses Jahr denken viele Tibeterinnen und Tibeter, die wie ich in Freiheit leben, mit gemischten Gefühlen zurück an das vergangene Jahr und blicken mit Sorge in die Zukunft. Manche von ihnen sind vielleicht im Ungewissen über einen nahen Angehörigen, der sich in Haft befindet, oder machen sich Sorgen um Familienangehörige in Tibet. Und vor allem die Tibeter in Tibet sind in großer Sorge aufgrund der andauernden Repressionen in ihrem Land. Sie wünschen sich Frieden und Gerechtigkeit.“
Während Tsering Jampa diese Zeilen schrieb, war die Sicherheitslage in Lhasa erneut sehr angespannt. Die chinesischen Behörden hatten Berichten zufolge allen tibetischen Regierungs- und Verwaltungsangestellten in Lhasa zu Losar den Besuch von Klöstern untersagt. Im besonderen Fokus der chinesischen Sicherheitsbehörden stand offenbar der Jokhang-Tempel in der Innenstadt Lhasas. Ausgerechnet dessen Umgebung war nämlich von den anonymen Initiatoren der chinaweiten „Jasmin-Spaziergänge“ im Internet als Treffpunkt angegeben worden. Deutlichstes Zeichen der Nervosität in Peking: Für ausländische Touristen war Tibet nicht zugänglich – offiziell wurde unter anderem auf das angeblich schlechte Wetter verwiesen. Weitere Einzelheiten zum Thema können Sie hier nachlesen.
In Berlin veranstaltete die ICT am 10. März gemeinsam mit der Tibet Initiative Deutschland eine Mahnwache an der chinesischen Botschaft in Berlin. ICT-Geschäftsführer Kai Müller ging in seiner Ansprache auch auf die Botschaft des Dalai Lama zum Jahrestag des Volksaufstands ein, die in Auszügen vor Ort verlesen wurde und weltweit für Schlagzeilen sorgte. Er beleuchtete dabei besonders den Kontrast zwischen der Haltung des Dalai Lama und der der chinesischen Führung in Peking, wo sich zur selben Zeit der Nationale Volkskongress, das chinesische „Scheinparlament“, zusammenfand, um die längst beschlossene Parteilinie abzunicken.
Vielen Dank!
Exakt 5.399 Postkarten und Individualpetitionen für Meinungsfreiheit in Tibet konnte ICT-Geschäftsführer Kai Müller am 21. März dem Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Markus Löning, überreichen. Die Übergabe der Unterschriften im Auswärtigen Amt markierte den Abschluss einer Aktion, die die International Campaign for Tibet im November 2010 gestartet hatte. Ziel war es, auf die Situation von Intellektuellen, Publizisten und Bloggern in Tibet aufmerksam zu machen, die sich allein aufgrund ihrer friedlichen Meinungsäußerung in Haft befinden. Beispielhaft hierfür wurde in der Petition auf die Fälle des tibetischen Umweltaktivisten Karma Samdrup und des Amateurfilmers Dhondup Wangchen verwiesen. Aus Sicht der ICT handelt es sich bei ihnen um gewaltlose politische Gefangene, die unverzüglich und bedingungslos freigelassen werden müssen. Ebenso wie Karma Samdrup und Dhondup Wangchen verbüßen derzeit zahlreiche weitere engagierte Tibeter lange Haftstrafen, obwohl auch sie lediglich friedlich ihre Rechte in Anspruch genommen haben.
Adressiert waren die Petitionen an Bundesaußenminister Guido Westerwelle. In den Appellen wurde er aufgefordert, sich für die Freilassung aller aufgrund ihrer friedlichen Meinungsäußerung Inhaftierten einzusetzen und sich so für den Schutz des Rechts auf Meinungsfreiheit in Tibet stark zu machen. Die International Campaign for Tibet bedankt sich herzlich für jede einzelne Postkarte und Online-Petition. Unsere Erfahrungen zeigen, dass Ihr Einsatz sich lohnt. Daher bitten wir Sie, regelmäßig unseren Tibet-Einzelfällen auf unserer Webseite einen Besuch abzustatten. Neben Karma Samdrup und Dhondup Wangchen finden Sie dort derzeit drei weitere Tibeter, für die Sie sich gegenüber den chinesischen Behörden einsetzen können. Vielen Dank für Ihr Engagement!
Erschütternd: Mönch verbrennt sich selbst
Es geschieht am 16. März auf dem Marktplatz von Ngaba (chin.: Aba) in der chinesischen Provinz Sichuan. Phuntsog, ein 20-jähriger tibetischer Mönch aus dem Kloster Kirti, setzt sich in Brand und ruft dabei laut: „Möge Seine Heiligkeit der Dalai Lama 10.000 Jahre leben!“ Dann, so berichten Augenzeugen, kommen Polizisten, löschen die Flammen und beginnen, auf Phuntsog einzuschlagen. Mönche und umstehende Tibeter, entwenden ihnen den Schwerverletzten und bringen ihn ins Kloster, später dann ins Krankenhaus. Dort erliegt er in der folgenden Nacht seinen Verletzungen. Die Verzweiflungstat des jungen tibetischen Mönchs war bereits der zweite Versuch einer Selbstverbrennung im Kloster Kirti seit der gewaltsamen Niederschlagung der fast ganz Tibet erfassenden Proteste des Frühjahrs 2008. Schon im Februar 2009 hatte sich der Mönch Tapey selbst angezündet, um so gegen die chinesische Politik zu protestieren. Er überlebte und soll sich heute an einem unbekannten Ort in Haft befinden.
Über direkte Kontakte zwischen Tibetern in Ngaba und Exiltibetern in Dharamsala erhielt auch die International Campaign for Tibet sehr schnell Informationen über die Vorgänge in Ngaba und konnte so frühzeitig einen Bericht über den Ablauf der Geschehnisse in Tibet veröffentlichen. Wie wichtig eine zeitnahe und seriöse Öffentlichkeitsarbeit seitens ICT und anderer Organisationen ist, ließ sich an diesem Beispiel sehr anschaulich belegen. Bereits wenige Stunden nach Phuntsogs Selbstverbrennung und den sich daran anschließenden, von den Sicherheitskräften gewaltsam unterdrückten Protesten Hunderter Tibeter veröffentlichte die staatliche chinesische Nachrichtenagentur Xinhua ebenfalls eine Meldung aus Ngaba. Darin allerdings erschienen der Ablauf der Ereignisse und insbesondere die Rolle der Polizei in einem gänzlich anderen Licht. Weitere Einzelheiten zu Phuntsogs Selbstverbrennung und den darauf folgenden Ereignissen in Ngaba inklusive eines Links zu dem englischsprachigen ICT-Bericht, finden Sie hier auf unserer Webseite.
An der traditionellen tibetischen Bestattungszeremonie für Phuntsog am 18. März nahmen mehrere tausend Menschen teil. Wie Radio Free Asia
ICT unterstützt Wahlbeobachtung
Die tibetischen Exilwahlen vom 20. März waren in vieler Hinsicht bemerkenswert. Erstmals traten drei Nichtgeistliche im Rennen um den Posten des „Kalon Tripa“, des tibetischen Premierministers, gegeneinander an, zudem waren es die ersten Wahlen nachdem der Dalai Lama verkündet hatte, seine politischen Befugnisse gewählten Vertretern übertragen zu wollen. Vor diesem Hintergrund musste ein deutlicher Beleg für den Reifeprozess der tibetischen Demokratie verständlicherweise etwas in den Hintergrund treten: Erstmals nämlich wurde der Wahlgang von einer externen Wahlbeobachtung begleitet, durchgeführt vom Internationalen Parlamentariernetzwerk zu Tibet (INPaT). Grundlage für die Wahlbeobachtung war ein Übereinkommen des Parlamentariernetzwerks mit der tibetischen Wahlkommission, das die Beobachtung der Stimmenabgabe in Wahllokalen und der Auszählung der abgegebenen Stimmen regelt. INPaT-Wahlbeobachter waren am Wahlsonntag in der Schweiz, in Belgien, in den USA und Kanada sowie in Indien unterwegs. Das Wahlbeobachterteam in der Schweiz bestand aus den beiden Europaabgeordneten Thomas Mann (Deutschland) und Csaba Sogor (Rumänien) sowie Marino Busdachin von der Organisation der nicht-repräsentierten Nationen und Völker UNPO. Unterstützt wurden sie dabei vom deutschen ICT-Geschäftsführer Kai Müller. Insgesamt besuchten die Wahlbeobachter drei Schweizer Wahllokale – neben Zürich waren dies Rikon (Kanton Zürich) und Rapperswil (Kanton St. Gallen)“>hier einen kleinen Eindruck davon.
Das Internationale Parlamentariernetzwerk zu Tibet (INPaT) wurde von der „5th World Parlamentarians Convention on Tibet“ im November 2009 von 133 Parlamentariern aus weltweit 33 Parlamenten ins Leben gerufen. Die International Campaign for Tibet unterstützt das Parlamentariernetzwerk als Sekretariat.
Unsere Arbeit
Tibetische politische Gefangene brauchen unsere Unterstützung!
Seit den landesweiten Protesten im letzten Jahr befinden sich immer noch mehr als 1.200 Tibeter in Haft oder sind „verschwunden“ – und müssen mit großer Wahrscheinlichkeit Folter und Misshandlungen hinnehmen. Der Grund: viele haben auf friedliche Weise gegen die Verhältnisse in Tibet und die Politik Pekings auf dem Hochland protestiert. Grundlegende Rechte werden ihnen damit systematisch vorenthalten.
Die Situation in Tibet ist eine Menschenrechtskrise, die uns alle angeht. Helfen auch Sie wie Schauspieler Hannes Jaenicke bei unserer Kampagne für tibetische Gefangene auf www.missingvoices.net oder sehen Sie ein Statement von Hannes Jaenicke auf unserer Webseite, laden Sie ein eigenes Videostatement hoch oder nehmen Sie an unserer Appellaktion an Staatspräsident Hu Jintao teil!
So können Sie helfen!
ONLINE SPENDEN
So können Sie helfen!
Mit 50 € können 5 warme Decken gegen die Kälte bezahlt werden.
Mit 250 € könnten fünf zusätzliche Betten angeschafft werden.
ICT – News April 2009 Chinesisches Gericht verhängt Todesstrafe gegen Tibeter
Der Meldung zufolge seien zwar alle fünf Angeklagten von Rechtsanwälten vertreten worden. Aus früheren Fällen ist jedoch bekannt, dass eine freie Wahl des Anwalts häufig unmöglich ist. So wurden im vergangenen Jahr 18 engagierte Bürgerrechtsanwälte massiv bedroht, sollten sie ihre Dienste Angeklagten in politisch sensiblen Verfahren anbieten. Generell muss davon ausgegangen werden, dass in solchen Fällen internationale Mindeststandards nicht eingehalten werden. Folter und Einschüchterung der Angeklagten sind an der Tagesordnung, die Gerichte stehen unter hohem Druck, ihre Urteile entsprechend den Erwartungen der politischen Führung zu fällen. ICT fordert die chinesischen Behörden auf, alle Urteile, die gegen Teilnehmer an den Protesten in Tibet vom März 2008 ergangen sind, unter der Teilnahme unabhängiger Beobachter zu überprüfen und in jedem Fall von der Anwendung der Todesstrafe abzusehen. Die Härte der ergangenen Urteile dürfte in keiner Weise geeignet sein zu einer Beruhigung der Lage beizutragen. Die Spannungen in Tibet dürften dadurch im Gegenteil nur noch erhöht werden.
ICT-Video „20 Years ICT“.