Chinesische Interessen und friedliche Konfliktlösungen
Einigen Asienwissenschaftlern zufolge ist die chinesische Regierung gegenüber der Tibet-Frage gespalten. Innerhalb der chinesischen Regierung gäbe es eine Gruppe, die die Auffassung vertritt, dass sich die Tibetproblematik von selbst erledigen würde, wenn der Dalai Lama stirbt. Andere, insbesondere chinesische Rechts- und Politikwissenschaftler, argumentieren, dass die Volksrepublik eine historische Chance verpassen könnte, wenn es die Gesprächsangebote des Dalai Lama nicht wahrnimmt. Sie glauben, das geistige Oberhaupt sei ein Gesprächspartner, der sowohl über Autorität unter den Tibetern verfügt, als auch die Interessen der Chinesen angemessen berücksichtigen will. Ferner würde eine Verhandlungslösung nachhaltig zur inneren Stabilität der Volksrepublik China beitragen und Chinas internationales Ansehen verbessern.
Der 14. Dalai Lama
Mit sechs Jahren beginnt dann die Klosterausbildung des nunmehr 14. Dalai Lama, der inzwischen den Namen Tenzin Gyatso trägt. Am 17. November 1950 übernimmt der inzwischen 15-Jährige die Regierungsgeschäfte. Kein einfacher Zeitpunkt: Die chinesische Volksbefreiungsarmee steht mit ihren Truppen bereits im Osten Tibets, der Einmarsch nach Lhasa steht unmittelbar bevor. Es ist der Anfang vom Ende eines unabhängigen Tibet. In den Folgejahren besetzen die Chinesen auch die Reste des tibetischen Territoriums.
Der 10. März 1959 markiert einen besonders tiefen Einschnitt im Leben des Dalai Lama. Der Volksaufstand gegen die chinesische Besatzung wird blutig niedergeschlagen, Tausende Tibeter verlieren ihr Leben, Zehntausende begeben sich auf die Flucht. Unter ihnen auch der Dalai Lama. Im nordindischen Dharamsala findet er Zuflucht.
1963 präsentiert der Dalai Lama den Entwurf einer demokratischen Verfassung für Tibet. In der Folge entwickelt sich daraus die „Charta der Tibeter im Exil“, auf deren Grundlage ein konsequenter demokratischer Aufbau der tibetischen politischen Strukturen im Exil erfolgt. Heute gibt es ein direkt gewähltes tibetisches Exilparlament mit Sitz in Indien. Auch der Regierungschef wird seit bald zehn Jahren in freien Wahlen bestimmt. Mehrfach hat der Dalai Lama den Wunsch geäußert, nach einer friedlichen Lösung der Tibetfrage all seine politische Autorität auf die demokratisch gewählten politischen Institutionen zu übertragen. Wenn dieses Ziel erreicht sei, wolle er den Rest seiner Tage meditierend in einem Kloster verbringen.
Am 10. Dezember 1989 nimmt der Dalai Lama in Oslo den Friedensnobelpreis entgegen. Er erhält die Auszeichnung für seinen unermüdlichen Einsatz für eine friedliche Lösung der Tibetfrage.
Es bleiben nicht die letzten Würdigung dieser Art: alleine 84 Preise, Ehrendoktorwürden und andere Auszeichnungen für sein Wirken verzeichnet dalailama.com, die Homepage des Dalai Lama. 72 Bücher tragen seinen Autorennamen. Er selbst bezeichnet sich als einfachen buddhistischen Mönch.
Seit bereits mehr als 50 Jahren unternimmt er von seinem Exilsitz aus Reisen um die ganze Welt, stets auf der Suche nach Unterstützung für seine Politik eines „Mittleren Weges“ des friedlichen Ausgleichs mit der Volksrepublik China. Auch dem deutschsprachigen Raum stattet der Dalai Lama mehrfach Besuche ab. So feiert er im April 2010 in Zürich gemeinsam mit der tibetischen Exilgemeinde den 50. Jahrestag der Aufnahme tibetischer Flüchtlinge in der eidgenossenschaft.
Der Dalai Lama erklärt am 10. März 2011, seine politischen Befugnisse gemäß der Verfassung der Tibeter im Exil abgeben zu wollen. Nach Beratungen überträgt der Dalai Lama seine politischen Befugnisse an die gewählte Führung der Tibeter im Exil.
Chronologie der sino-tibetischen Beziehungen von 1979-2007 (engl.)
- für einen ernsthaften Dialog zwischen der chinesischen Staatsführung und dem Dalai Lama einzutreten, um auf diese Weise eine friedliche Lösung des Tibet-Konflikts herbeizuführen;
- auf die Dringlichkeit von direkten Gesprächen mit dem Dalai Lama hinzuweisen;
- den Dialog mit der Volksrepublik China über Menschenrechtsfragen transparenter, zielorientierter und koordinierter zu führen;
- das tibetische Volk, sowohl in Tibet als auch in der Diaspora, durch verstärkte Anstrengungen in der Entwicklungszusammenarbeit zu unterstützen, wobei sichergestellt sein muss, dass Entwicklungszusammenarbeit kulturelle und soziale Aspekte tibetischer Identität wahrt.
Trends und Entwicklungen
Trotz des zwischenzeitlichen Stillstands in den sino-tibetischen Beziehungen sah Lodi Gyari, Sondergesandter des Dalai Lama, auch immer wieder positive Aspekte im Dialog mit den Vertretern der chinesischen Führung: "Heute haben wir ein profunderes Verständnis der jeweils anderen Position und wir begreifen die fundamentalen Unterschiede, die auch weiterhin bestehen, besser."
Doch nicht nur auf politischer Ebene, auch in der chinesischen Bevölkerung gibt es neue Entwicklungen bezüglich der Tibetfrage. Vor allem jüngere Chinesen, insbesondere Studenten und Intellektuelle, äußern sich relativ offen im chinesischen Internet und drücken ihre Sympathie für die Anliegen Tibets aus. Diese Ansichten erreichen mittlerweile weitere Kreise der Bevölkerung. Chinesische Intellektuelle unterstützen erstmals die Verhandlungslösung des Dalai Lama und schreiben – wie Wang Lixiong – mutige Essays, in denen sie den Dalai Lama als Schlüssel zur Lösung des Tibet-Problems bezeichnen. Allerdings ist vor dem Hintergrund einer sich verschlechternden Menschenrechtsituation in Tibet zu konstatieren, dass ein großer Teil der Tibeter den Dialogbemühungen des Dalai Lama mit zunehmender Skepsis begegnet.