Tibet-Politik

Der Dalai Lama besucht Deutschland: TIBET, CHINA UND DEUTSCHLAND
von Prof. Dr. Jan Andersson
30. Mai 2003
Berlin – Diese Woche besucht der Dalai Lama Deutschland ­als Ehrengast des Ökumenischen Kirchentages in Berlin und Abschlussredner einer medizinischen Tagung in München. Wie so häufig bei seinen Reisen in den westlichen Demokratien kommt der Friedensnobelpreisträger, um private Einladungen wahrzunehmen, auch wenn diesmal Treffen mit einigen Politikern eingeschoben werden.
Allerdings gehört es, nicht nur in Berlin, zum politischen Grundsatz, den hierzulande so immens populären Tibeter lediglich als religiöses Oberhaupt" oder als Friedensnobelpreisträger zu treffen, nie jedoch als politischen Führer seines von der Volksrepublik China seit mehr als einem halben Jahrhundert besetzten Landes. Der Grund ist leicht ausgemacht: Furcht davor, in Peking in Ungnade zu fallen.
Diese Furcht mag begründet sein, aber ist eine solche Haltung wirklich eine Grundlage für eine zukunftsweisende Politik? Ohne die aktive Mitwirkung des von der chinesischen Führung so verteufelten Dalai Lama wird das seit über 50 Jahren schwelende Problem Tibet nicht gelöst werden können. Der Dalai Lama betont immer wieder, dass es dabei nicht um ihn und seine eigene Zukunft geht sondern um das Überleben des tibetischen Volkes. Seine Position als einzige von der übergroßen Mehrheit aller Tibeter anerkannten Integrationsfigur macht den 67-Jährigen aber zur Schlüsselfigur in jedem Versuch, auf gewaltfreiem Weg eine Lösung des Tibet-Problems herbeizuführen.
Bislang jedoch ist nicht viel passiert: Nach Jahren ohne Kontakt zwischen Peking und Dharamsala, dem indischen Sitz des Dalai Lama und der Regierung Tibets im Exil, konnte im September 2002 der Sondergesandte Lodi Gyari mit einer kleinen Delegation eine kurze Reise nach China und Tibet machen. Zwar gab es keine Gespräche mit wirklichen Entscheidungsträgern, aber zumindest war einmal ein erster Schritt getan. Am 25. Mai reiste Gyari zum zweiten Mal nach China. Ob dieser Besuch konkrete Erfolge zeigen wird, hängt weitgehend von Peking ab, da die Exilseite immer Diskussionbereitschaft gezeigt hat. Als ein großes Hindernis muss allerdings die chinesische Forderung an den Dalai Lama angesehen werden, er müsse zuerst aufhören, das Mutterland zu spalten", also auf jedwede Autonomie seines Landes verzichten, und anerkennen, dass nicht nur Tibet sondern auch Taiwan seit jeher" ein Teil Chinas gewesen seien.
Auch wenn sie es selten in dieser Deutlichkeit sagen, so scheinen viele westliche Politiker Tibet als auswegloses Dilemma abgeschrieben zu haben. Die Treffen mit dem Dalai Lama kommen zustande aufgrund von öffentlichem Druck durch Organisationen wie die International Campaign for Tibet Deutschland oder die Tibet Initiative Deutschland, durch die Neugier auf den charismatischen „Gottkönig", oder weil man sich einfach ein bisschen Abglanz von seiner Popularität erhofft. Vielen erscheint die chinesische Dominanz in Tibet unerschütterlich und die Vorstellung, dass sich dies ändern könnte, als nicht mehr denn ein Wunschtraum, wenn nicht gar als Bedrohung. Die Tibeter allerdings schöpfen große Hoffnung nicht zuletzt aus der deutschen Gegenwartsgeschichte: jeder Realpolitiker hätte noch am Tag des Mauerfalls geschworen, dass sie noch lange stehen würde und dass gewisse Erleichterungen nur in wohlüberlegten und temperierten Gesprächen mit der DDR-Regierung zu erreichen seien. Es kam, wie wir alle wissen, ganz anders und zwar genauso überraschend wie plötzlich.
Die Erfahrung, dass sich festgefahrene Situationen im Handumdrehen verändern können, dass die Weltpolitik in Sekundenschnelle auf den Kopf gestellt werden kann und altvertraute Gewissheiten auf den Müll geworfen werden müssen, lässt auch die Tibeter hoffen. Die Mauer quer durch Berlin und der Eiserne Vorhang, der Europa teilte, waren nicht weniger unverbrüchlich anerkannte politische Tatsachen als die chinesische Besatzung Tibets heute. Hätte jemand vor dem Mauerfall die heutige Realität als Vision präsentiert, er wäre als Spinner und Träumer verlacht worden.
Jetzt ist eine günstige Zeit für Veränderungen. China wird von einer neuen Führungsriege regiert, mit Hu Jintao als Staats- und Parteichef und Wen Jiabao als Premier. Hu Jintao hat Erfahrung mit Tibet, da er von 1988 bis 1992 dort Parteisekretär war. Er zeichnet auch für die Verhängung des einjährigen Kriegsrechts über Lhasa 1989 verantwortlich: heftige Ausschreitungen in der tibetischen Hauptstadt hatten gezeigt, dass die Besatzungsmacht gar nicht so beliebt war, wie sie versucht hatte, der Welt und vielleicht sogar sich selbst weiszumachen. Man kann allerdings nur spekulieren, ob diese Politiker bereit sind, eine neue Tibet-Politik einzuleiten, denn ein Bruch mit der Politik der Vergangenheit würde sehr viel Mut verlangen. Die Doktrin von Tibet als ewigem, untrennbarem Teil Chinas hat fast staatstragende Bedeutung in der Volksrepublik.
Dies zeigt das große Dilemma des Tibet-Konflikts: es ist zum überwiegenden Teil ein psychologisches Problem. Wirtschaftlich und militärisch kostet allein der Besitz Tibets China ungeheure Summen, die in produktiven Bereichen weit besser angelegt wären. Denn trotz des Geldes, das China in die tibetische Ökonomie pumpt, wird eine gesunde ökonomische Entwicklung des Landes weit weniger unterstützt, als der Tourist in Lhasa vermutet, wenn er den rasanten Ausbau der Stadt betrachtet. Mit dem Löwenanteil des Geldes werden nämlich unproduktive Branchen und der Konsum gefördert. Nach offiziellen Zahlen lag der Anteil des tertiären Sektors in Tibet mit über 50 Prozent weit vor Landwirtschaft und Industrie. Diese produktiven Wirtschaftszweige weisen auch eine deutlich geringere Wachstumsrate auf als der tertiäre Sektor. Dies ist besonders signifikant, da in den Wirtschaftszweigen mit niedrigen Wachstumsraten überwiegend Tibeter zu finden sind.
In einer im April vorgelegten Analyse der offiziellen Daten zeigt das Tibet Information Network, eine in London ansässige unabhängige Nachrichten- und Rechercheagentur, dass im Jahr 2001 das Defizit im öffentlichen Budget nicht weniger als 71 Prozent des Bruttosozialproduktes betrug. Diese Summe, etwa 10 Milliarden Yuan (über 1 Milliarde Euro), muss die Zentralregierung als Zuschuss leisten. Und darin sind nicht einmal die Kosten für die massive Militärpräsenz, die allgegenwärtige Geheimpolizei und andere Machtinstrumente enthalten, die für die Sicherung der chinesischen Herrschaft in Tibet notwendig sind.
Es erfordert also nicht viel Fantasie zu sehen, dass rationale Kriterien für eine deutliche Änderung der chinesischen Tibet-Politik sprechen, und dies ist auch sehr wohl in China bekannt. Könnte nur die psychologische Barriere überwunden werden, so wäre eine tragfähige Lösung für beide Seiten sicherlich viel leichter auszuhandeln, als es heute möglich scheint. Doch das erfordert Mut.
Der Vorteil für China läge nicht nur im ökonomischen Bereich, wo ein großes ökonomisches Loch gestopft und die freiwerdenden Ressourcen endlich sinnvoll eingesetzt werden könnten. Wenn Peking sich auf eine vernünftige Verhandlungslösung einließe, hätte man ein gärendes politisches Problem aus der Welt geschafft, das sich ganz sicher nicht mit dem Ableben des heutigen Dalai Lama von selbst erledigen wird. Das Ansehen Chinas in der Welt würde sich schlagartig verbessern und die chinesischen Politiker müssten bei Auslandsreisen nicht mehr mit Sprechchören und Protestplakaten rechnen sondern könnten Lobesworte und Wertschätzung ernten.
Es ist nicht unbedingt Sache unbeteiligter Dritter zu sagen, wie eine solche Lösung aussehen könnte. Unerwünschte Ratschläge können sogar kontraproduktiv sein. Tibeter und Chinesen müssen ihre gemeinsame Zukunft selbst aushandeln. Allerdings ist es sicher realistisch, damit zu rechnen, dass ein Abkommen einer internationalen Garantie bedarf, denn nach mehreren Jahrzehnten des Konflikts ist das Misstrauen auf beiden Seiten naturgemäß groß.
Um diesen Prozess zu beschleunigen kann es durchaus hilfreich sein, wenn ausländische Regierungen Verhandlungen zwischen Peking und Dharamsala anmahnen. Zwar pflegt Peking sehr empfindlich auf solche Mahnungen zu reagieren, aber es sieht auch, dass der wunde Punkt bleibt, dass dieses Problem bekannt ist und sich auf Dauer nicht totschweigen lässt. Die westlichen Politiker sollten den Dalai Lama nicht nur als Friedensnobelpreisträger empfangen sondern auch als offiziellen Vertreter seines Volkes, und die tibetische Regierung im Exil muss, wie das Europäische Parlament empfohlen hat, anerkannt werden. Gleichzeitig aber sollte auch noch eindringlicher als bisher China deutlich gemacht werden, dass es in den Augen der Weltöffentlichkeit durch Verhandlungen nur gewinnen kann. Hier läge auch für die Bundesregierung mit ihren vorzüglichen Kontakten nach Peking eine Herausforderung.
(Der Autor ist Vorsitzender der International Campaign for Tibet Deutschland e.V. und war erster Redakteur der Zeitschrift Tibet-Forum.) zurück zur Übersicht

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