Tibet-Politik
26. September 2001
Kathmandu – Nonnen als Zielscheibe in der seit der Kulturrevolution umfangreichsten Zerstörung
Khenpo Jigme Phuntsok, der Abt des weitläufigen Klosterkomplexes Larung Gar in Osttibet, wurde entgegen seines Willens vom Komplex fortgeschafft. Er wird nach Angaben von Quellen in Tibet derzeit im Militärkrankenhaus in Barkham (Chinesisch: Maerkang) festgehalten. Sein Aufenthaltsort war seit der Razzia Mitte August unbekannt gewesen.
Die Sicherheitsmaßnahmen sind Berichten zufolge streng. Anscheinend ist es weder Khenpos engsten Schülern noch den führenden Lehrern von Larung Gar erlaubt, ihn zu sehen. Jetsun Muntso, Khenpo Jigmes Nichte und Lehrerin in Larung Gar, befindet sich angeblich ebenfalls in Barkham.
Gegen Ende Juni nach der Ankunft von Beamten der Kommunistischen Partei in Larung Gar verschlechterte sich Khenpo Jigme Phuntsoks Gesundheitszustand. Obwohl er derzeitig unter Diabetes und Bluthochdruck leidet und Hilfe beim Gehen benötigt, hatte er sich geweigert, sein klösterliches Lager zu verlassen. Er zog es vor, sich auf seinen tibetischen Arzt zu verlassen, der etwas chinesische und westliche Medizin praktiziert.
Khenpo Jigme Phuntsoks Deportation wird nicht als offizielle Verhaftung angesehen, jedoch haben mehrere Quellen berichtet, dass er nicht nach Larung Gar zurückkehren darf. Khenpo Jigme Phuntsok fortzuschaffen, wird als Schlüsselereignis der Razzia in Larung Gar verstanden. Der Khenpo (Tibetisch für "verehrter Lehrer") ist als eindrucksvolle und charismatische Persönlichkeit bekannt, der abertausende ernsthafter religiöser Schüler in einer Bergstätte um sich versammelt hatte. Er war von den chinesischen Behörden unter Druck gesetzt worden, das Lager zu verlassen.
„Die Deportation von Khenpo Jigme Phuntsok, Tibets führendem buddhistischen Lehrer, stellt einen ernsthaften Schlag gegen den Buddhismus in Tibet dar", sagte John Ackerly, Präsident der International Campaign for Tibet.
„Sollte er offiziell verhaftet werden, würde dies den bedeutendsten Rückschlag für den tibetischen Buddhismus seit der Verhaftung des jungen Panchen Lama und der Flucht des Karmapa darstellen", fuhr Ackerly fort.
Neue Einzelheiten zu den Razzien
In einem Ausmaß, das seit der Kulturrevolution nicht mehr beobachtet wurde, begannen Arbeitsteams am 28. Juni die im traditionell-tibetischen Stil errichteten Behausungen niederzureißen. Zweitausend Meditationshütten sind inzwischen anscheinend zerstört worden – beinahe doppelt soviel wie zuvor berichtet. Ende August konzentrierten sich die Zerstörungsarbeiten von Wohnvierteln auf die Nordseite des weitläufigen klösterlichen Komplexes. Um den Schutt wurden Zäune errichtet. Die Mehrheit der zerstörten Hütten wurde Berichten zufolge von Nonnen bewohnt.
Straßensperren, bemannt mit Angehörigen der Volksbefreiungsarmee seien auf der Hauptstraße zwischen Serthar, der Hauptstadt des Landkreises, Gongentang und Drango (Chinesisch: Luhou) errichtet worden, um den Zugang zu Larung Gar zu kontrollieren. Larung Gar liegt in einem Seitental etwa 15 Kilometer südlich von Gongentang.
Mehrere Hundert chinesische Wanderarbeiter wurden herbei gebracht, um die Zerstörungen durchzuführen. Sie erhielten Berichten zufolge 250 Yuan (€ 32) für jede zerstörte Behausung. Den Arbeitern war es anscheinend erlaubt, sich Rohmaterialien oder Gegenstände aus dem Inneren der Hütten anzueignen. Bewaffnete Polizisten seien während der Zerstörungen über den gesamten klösterlichen Komplex verteilt gewesen. Es liegen keine Berichte über Widerstand durch Mönche oder Nonnen vor.
Die Razzia wurde von einem Beamten namens Wang beaufsichtigt, dem Vorsitzenden der "Vereinten Front" der Provinz Sichuan, so die neuesten Berichte. Er ist als Wang Putrang ("Leiter Wang") bekannt. Wang war für die Beamten der Kommunistischen Partei zuständig, einschließlich der Beamten der Vereinten Front in Beijing, der Truppen bewaffneter Polizisten und der Arbeiterteams, die nach Larung Gar geschickt worden waren, um die Vertreibungen und Zerstörungen im Juni auszutragen.
Eine aus Zentraltibet stammende Nonne, die sich weigerte, ihre Wohnung zu verlassen, nachdem sie von Parteibeamten dazu angewiesen wurde, berichtet: „Sie sagten mir, ich müsse heimgehen und dürfe zu keinem anderen Nonnenkloster. Ich sagte ihnen, dass ich nicht gehen möchte. Daraufhin betraten zwei bewaffnete Polizisten meine Holzhütte und warfen meine Buddhastatue auf den Boden. Sie zerrten mich aus der Hütte und einer der Polizisten warf mein tägliches Rezitierbuch [buddhistischer Schriften] in den Holzofen. Es ist genau wie in den späten sechziger Jahren", fuhr sie fort. Damit bezog sie sich auf die massiven Zerstörungen tibetischer Klöster während der Kulturrevolution.
Die meisten Nonnen in Larung Gar lebten nur mit äußerst spärlichen Mitteln, während sie die buddhistische Ausbildung erhielten, die Khenpo Jigme Phuntsok, Jetsun Muntso (Khenpo Jigme Phuntsoks Nichte) und andere Lehrer in Larung Gar vermittelten.
Vielen Nonnen wurde eine finanzielle Entschädigung von 200 Yuan (ungefähr € 26) versprochen, um Reise- und Wiederansiedlungskosten in ihren heimischen Landkreisen zu decken, sollten sie Larung Gar freiwillig verlassen, so berichten andere Nonnen. Es ist unklar, ob irgendwelche Nonnen diese Entschädigung erhalten haben.
Verlässliche Quellen, die Larung Gar in den vergangenen beiden Wochen besucht haben, schätzen die Anzahl der zerstörten Meditationshütten auf mehr als 2.000. Die meisten der zerstörten Hütten wurden von Nonnen bewohnt.
Viele Nonnen haben Zuflucht in den Bergen und kleinen Wäldern im Umkreis einiger Tagesmärsche von Larung Gar gesucht, wie es aus einer schriftlichen Darstellung hervorgeht, die die ICT von einem Mönch namens Ngawang Ozer erhalten hatte. Ozers schriftlicher Bericht erklärt: „[Die Nonnen] haben über einen Monat in der Wildnis gelebt mit kaum Nahrungsmitteln. Viele andere streifen, oft mittellos, durch Dörfer, Bushaltestellen und andere Orte ohne wirklich zu wissen, wohin sie gehen sollen. Die Beamten hatten sie angewiesen, in ihre Heimatdörfer zurückzukehren, sich jedoch nicht den dortigen Klöstern anzuschließen. Dies hat die Nonnen allerdings davon abgehalten, in ihre Heimat zurückzukehren."
Westliche Touristen, die kürzlich durch Kham und Amdo gereist sind, bestätigen Ngawang Ozers Aussagen. „Kleine Gruppen wandernder Nonnen können in vielen Orten von Xining (in der Provinz Qinghai) bis Lhasa beobachtet werden", berichtet eine Französin der ICT. "Die Mehrzahl von ihnen erzählte mir, dass sie nicht in den Bergen in der Nähe von Larung Gar bleiben konnten, da es kälter werde. Sie haben jedoch keinen Zufluchtsort."
In der buddhistisch-klösterlichen Tradition schließen die Gelübde der Nonnen und Mönche das Versprechen ein, "die eigene Heimat zu verlassen", um die Bindungen an das Leben eines Haushaltsvorstandes aufzugeben. Für Nonnen in Tibet bedeutet dies die Wahl, ein einfaches Leben der Meditation und des Studiums in einer abgeschiedenen Gegend oder in einem Nonnenkloster zu führen oder aber Kinder aufzuziehen, sich um die Felder oder das Geschäft zu kümmern und andere Familienverpflichtungen zu erfüllen.
Ein westlicher buddhistischer Gelehrter, der Larung Gar Ende letzten Jahres besucht hatte, berichtete der ICT: „Ich habe nirgendwo, in keiner tibetischen Gemeinde in Tibet, Indien oder Nepal, etwas ähnliches wie Larung Gar erlebt. Die Nonnen und Mönche leben wahrhaft ein Leben der Einkehr und des Studiums, hoch auf dem tibetischen Plateau. Der führende Khenpo dort (Khenpo Jigme Phuntsok) betont klösterliche Disziplin während seiner Belehrungen. Er spricht davon, was es bedeutet, ein klösterliches Leben zu führen – sowohl nach außen hin, als auch, was noch wichtiger ist, im Geiste."
Ältere Nonnen, die Schwierigkeiten haben, zu laufen, dürfen anscheinend in Larung Gar bleiben. Sie wurden auf der Südseite des Komplexes gruppiert. „Kurzfristig dürfen sie bleiben", berichtet ein Mönch aus Serthar am Telefon. „Aber langfristig wollen die Beamten, dass alle Nonnen verschwinden."