Tibet-Politik

In Drapchi, Tibets berüchtigtstem Gefängnis, gaukelt die Staatsmacht Besuchern eine heile Welt vor

Johnny Erling, Stuttgarter Nachrichten

25. November 2002
Lhasa – Vom zweiten Stock dröhnen beschwingte Klänge durch das Schulungsgebäude vor dem großen Platz mit dem chinesischen Fahnenmast. Eine Band übt einen Flamenco mit Schlagzeug und Elektrogitarren ein. Die zehn Musiker springen erschrocken auf, stehen stramm, als eine Gruppe Journalisten geführt von Wachbeamten den Raum betreten. Ein drahtig wirkender Mann herrscht sie an: "Weitermachen!"
An seiner Uniform trägt er die Nummer 5 403 001. Die drei Endziffern weisen ihn als Gefängnisdirektor aus. Andere Beamte, die neben den Musikern Wache stehen, tragen fortlaufende Nummern, einer die Zahl 215. "Auf unsere 900 Häftlinge passen 200 Wachen auf", sagt Direktor Lü Bo.
Im Norden der tibetischen Hauptstadt Lhasa spielt die Gefängnisband Neues Leben für Korrespondenten aus Peking auf, denen zum ersten Mal erlaubt wird, Tibets berüchtigtes Gefängnis zu besuchen. Offiziell ist es nach dem Dorf Zhaji benannt, weltweit aber unter tdem ibetischen Namen Drapchi bekannt.
Direktor Lü Bo, der 1998 die Leitung des Gefängnisses der autonomen Region Tibet übernahm, in dem Schwerkriminelle und "Verbrecher gegen die Staatssicherheit", wie China seine politischen Gefangenen nennt, untergebracht werden, hätte die Gründung einer "Rockband im höchsten Gefängnis der Welt" erlaubt. So preist ihn die vom Staatsrat herausgegebene Propagandazeitschrift "Menschenrechte" an und zitiert den 45-Jährigen mit einer nach modernem Strafvollzug klingenden Aussage: "Wir müssen die Häftlinge nicht nur ihre Strafe verbüßen lassen, sondern für sie das Haftleben leichter und lebendiger gestalten."
Lü Bo wirkt angespannt, seine Besucher irritieren ihn. Gerade hat er ihnen doch erklärt, dass der Standart der Versorgung in seiner Haftanstalt höher ist, als "der vieler tibetischer Bauern und Hirten". Aber die Journalisten interessieren sich für ganz andere Töne. Sie befragen den Haftanstaltsleiter nach dem Schicksal der singenden Nonne Ngawang Sangdrol. Laut Amnesty International ist sie die bekannteste politische Gefangene Tibets mit der längsten Haftstrafe. Die 28 Jahre alte Nonne wurde 1990 als 16-Jährige bei einer Demonstration für Tibets Unabhängigkeit festgenommen. 1992 wurde sie erneut inhaftiert, weil sie half, Protestaktionen zu organisieren. Sie ließ sich in der Haft auch durch Prügel nicht einschüchtern. In Drapchi gelang es ihr und 13 anderen Nonnen, heimlich eine Kassette mit Liedern aufzunehmen und herauszuschmuggeln. Die Protestverse fanden in Lhasa Verbreitung: "Gleich wie schlimm sie uns schlagen. Die Zeit wird kommen, wenn die Sonne wieder durch die Wolken scheint."
Direktor Lü Bo entschließt sich, aus seinen Notizen vorzulesen und alles zu bestätigen: "Ich habe das neulich auch einer Gruppe EU-Vertretern berichtet." Ngawang Sangdrol sei am 16. Juni 1992 verhaftet und am 24. Dezember 1992 zu drei Jahren Haft verurteilt worden, weil sie eine antichinesische Demonstration organisiert habe. Sie habe in der Haft Partei und Regierung geschmäht, für Unruhe und Aufruhr gesorgt.
Dreimal sei ihre Strafe verschärft und verlängert worden. Wie lange muss Ngawang noch büßen? Sie benehme sich besser, zeige jetzt erste Einsicht, antwortet der Direktor: "Wir haben ihr daher am 12. Oktober 2001 die Strafe um eineinhalb Jahre reduziert." Er schaut wieder auf seine Notizen: "Noch neun Jahre und 25 Tage wird sie in Haft sein – bis zum 3. November 2011." Aus drei Jahren Gefängnis haben chinesische Richter 20 Jahre gemacht, nur um ein Exempel an Tibets Jeanne D"Arc zu statuieren.
Auf dem roten, stacheldrahtbewehrten und videoüberwachten Eingangstor, von dessen Turm zwei Wachen mit Gewehren blicken, stehen die alten Parolen zur Umerziehung in Chinesisch und Tibetisch: "Werdet wieder Menschen – Beschleunigt eure Umwandlung!" Ein meterhohes schwarzes Schiebetor öffnet sich automatisch. Dahinter sieht es auf den ersten Blick manierlich aus. Hohe Pappeln säumen den Weg entlang weiß gestrichener Mauern vor zweistöckigen Gebäuden mit vergitterten Fenstern. An die Eingangswände haben Häftlinge auf Geheiß des Direktors Abbildungen des Potala-Palastes und Blumengebinde gemalt.
Bevor Drapchi 1960 zum Gefängnis wurde, war es eine Militärkaserne. Das sieht man den Gebäuden mit ihren zwölf Bettenzellen an. Der Hof ist aber leer, ebenso wie die Gebäude. "Die Insassen haben das Wochenende frei", sagt Lü Bo. Er meint damit, dass sie nicht arbeiten müssen. Häftlinge kriegen die Besucher während des gespenstischen Rundganges nur zweimal zu Gesicht. Laute Töne schallen vom Ende des Ganges im Eingangstrakt, wo vor den Zellen Näpfe und Waschschüssel gestapelt sind. "Samstag Nachmittag ist Fernsehtag", erklärt ein Wächter. Mit dem Rücken zur Tür kauern 100 Häftlinge mit blauen Kappen und gestreifter Anstaltskleidung auf Hockern und starren auf einen Fernseher. Keiner von ihnen wagt auch nur einen kurzen Blick.
Drapchi ist das einzige der drei tibetischen Gefängnisse, das seit 1992 von Uno-Delegationen und Politikern besucht werden kann. Doch nur wenige durften mit Gefangenen sprechen. Laut Yang Huiping, einem Vertreter der Haftbehörde, sitzen zehn Prozent der 2300 Inhaftierten in Tibet wegen "Gefährdung der Staatssicherheit" ein. Darunter versteht die Justiz Proteste, Demonstrationen für Tibets Unabhängigkeit oder Verteilung von Flugblättern. Schon der Besitz eines Fotos vom Dalai Lama wird mit Haft bestraft. 100 politische Häftlinge sind in Drapchi inhaftiert, 60 Prozent davon sind Mönche und Nonnen.
Nach Angaben der Kampagne für ein freies Tibet sind seit den Unruhen von 1987 in Drapchi mindestens 28 Häftlinge an den Folgen von Misshandlungen gestorben. Für Lü Bo sind das alles Schauermärchen. In seiner Amtszeit seien nur 15 Häftlinge an Krankheiten gestorben, sagt er. Glauben will ihm das von den Besuchern allerdings niemand.

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