Es gibt eine ungeklärte Debatte darüber, wie der chinesische Begriff für "Krise", "weiji", richtig übersetzt werden kann. "Weiji" besteht aus zwei Schriftzeichen, aus "Gefahr" und aus "Chance". Was auch immer die Antwort auf diese linguistische Frage sein mag, die Bedeutung von "weiji" kann eine Motivation darstellen für Menschen, die am Boden sind.
Dieser Gedanke ist mir in der letzten Woche gekommen angesichts der Erdbebenkatastrophe in der Tibetischen Autonomen Präfektur von Yushu. Die Region ist Tibetern besser bekannt als "Ga Kyegudo". Die Zahl der Todesopfer steigt immer noch und die offiziellen Angaben der chinesischen Behörden (am 22. April war die Rede von etwas mehr als 2.000 Opfern) unterscheiden sich stark von Aussagen von Tibetern, die vor Ort sind (mehr als 10.000 Menschen seien gestorben). Die alte Stadt Kyegu ist vollständig zerstört worden, einschließlich einiger vor langer Zeit gegründeter Klöster. Die Menschen in der Region, fast ausschließlich Tibeter, versuchen verzweifelt, die Krise zu bewältigen.
Obwohl die chinesischen Medien es nicht offen angesprochen haben, ist auch der politische Hintergrund der Krise sehr deutlich. Zentrale Botschaft des offiziellen Staatstrauertages und einer Benefizsendung in Chinas staatlichem Fernsehen CCTV war die "Einheit von Han und Tibetern" (eine der Gesangsdarbietungen sprach sogar davon, dass "Tibeter" und "Han" tatsächlich von einer "gemeinsamen Familie" abstammten, dem "Zongguo", der offizielle Begriff für das "Reich der Mitte").
Die Erdbebenkatastrophe hat daher mehrere Dimensionen. Wenn wir uns noch einmal den chinesischen Begriff für "Krise" vergegenwärtigen, der sowohl die Bedeutung von "Gefahr" wie auch "Chance" beinhaltet, dann glaube ich, dass die chinesischen Behörden verstanden haben, welche Gefahr die Krise bedeutet und sie haben versucht, dieser Gefahr zu begegnen. Die chinesische Regierung ist sich der Tatsache bewusst, dass die internationale Öffentlichkeit sorgsam beobachtet, wie sie mit der Bewältigung der Krise in dem betroffenen tibetischen Gebiet umgeht. Sie versucht daher mit Nachdruck herauszustellen, wie sehr sie sich um eine Verbesserung der Lage im Katastrophengebiet bemüht. Manche sagen sogar, sie überspannt den Bogen, wenn gewöhnliche Arbeitnehmer gezwungen werden, einen Teil ihres Gehaltes zu "spenden".
Aber der andere Teil der Übersetzung, "Chance", ist ebenfalls etwas, was die chinesische Regierung verinnerlichen muss. Die Katastrophe eröffnet ihr und dem chinesischen Volk eine Gelegenheit zu verstehen, welch große Bedeutung die Tibeter Spiritualität, Religion und Kultur beimessen. Der Dalai Lama spielt eine besondere, herausragende Rolle in ihrem Leben. Überaus deutlich wurde dies, als sich buddhistische Mönche und Nonnen unmittelbar nach dem Beben nicht nur in großer Zahl bei den Bergungsarbeiten beteiligten, sondern auch wichtigen geistlichen Beistand leisteten. Eine Reihe von chinesischen Medien und Bloggern hat dies positiv kommentiert.
Vielleicht haben viele Chinesen über die Ereignisse in Yushu die Gefühlswelt der Tibeter etwas besser verstehen können. Daher verbirgt sich eine tiefere Bedeutung hinter der Aussage Premierminister Wen Jiabaos, als er am 15.
April zu Tibetern in Yushu sprach: "Euer Leiden ist unser Leiden". Die chinesische Regierung hat endlich begonnen, das tibetische Volk als Ganzes zu betrachten.
Jetzt besteht für die chinesische Regierung die Chance, die tieferen Wunden des tibetischen Volkes zu heilen.
Bhuchung Tsering ist Vizepräsident der International Campaign for Tibet. Der Beitrag kann im ICT-Blog unter http://weblog.savetibet.org/2010/04/22/crisis-in-yushu-an-opportunity-to-heal-the-larger-tibetan-wound/ im Original nachgelesen werden (engl.).