Tibet-Politik

Kommentar: Krise in Tibet
22. Mai 2008
Nachfolgender Kommentar ist in der Mai-Ausgabe 2008 des "amnesty-Journals" von amnesty international erschienen.
Der Dalai Lama verfügt immer noch über ausreichend Autorität unter den Tibetern, um eine Lösung mit der Führung in Peking aushandeln zu können. Von Kai Müller
Das Bild ging um die Welt: Am 27. März trat eine Gruppe tibetischer Mönche vor die Kameras internationaler Medien. Die Journalisten waren von den chinesischen Behörden zu einer streng überwachten Pressereise nach Lhasa eingeladen worden und hielten sich nun im Zentrum der Hauptstadt Tibets auf. Mit bewegter Stimme, wohl auch in dem Wissen, dass sie ihre Freiheit aufs Spiel setzten, forderten die Mönche die Rückkehr des Dalai Lama nach Tibet und widersprachen der offiziellen Behördenversion, das geistige Oberhaupt der Tibeter sei für die andauernden Proteste auf dem »Dach der Welt« verantwortlich.
Diese haben sich inzwischen auf knapp hundert Orte in ganz Tibet ausgedehnt. Klar ist, dass die chinesischen Behörden in bekannter Manier reagiert haben. Berichte über die Anwendung massiver Gewalt seitens der Sicherheitskräfte mit insgesamt weit mehr als 100 Toten machen die Runde. Während die große Mehrheit der Proteste friedlich verläuft, gibt es besonders in Lhasa auch gewaltsame Ausschreitungen von Tibetern. Mehr als 1.000 Menschen wurden festgenommen. In Schnellverfahren sollen sie abgeurteilt werden, heißt es später. Nach wie vor sind die großen Klöster Lhasas, in der Vergangenheit immer wieder Ort des Protestes gegen die chinesische Tibetpolitik, von der Außenwelt abgeriegelt. Ausländische Medien können nicht mehr aus Tibet berichten, einen Reisewunsch der UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte Louise Arbour nach Tibet hat Peking abgelehnt. Belastbare Informationen über die Situation in Tibet gibt es nicht, immer wieder dringen jedoch Berichte über Gewalt und Tote nach außen.
Die Protestwelle seit dem 10. März stellt den vorläufigen Tiefpunkt einer Entwicklung dar, die vor zwei Jahren begonnen hatte. Einzig das Ausmaß der Proteste ist überraschend. Seit 2006 hatte sich die Lage auf dem tibetischen Hochland zugespitzt: Die so genannte »patriotische Erziehung« wurde intensiviert, zahlreiche Verbote über Tempelbesuche wurden ausgesprochen, die bekannte Kampfrhetorik gegen den Dalai Lama nahm zu, und friedlicher Protest wurde mit harten Strafen geahndet. Es wurde deutlich, dass die tibetische Bevölkerung nicht länger gewillt ist, die Repression schweigend hinzunehmen. Immer öfter kam es zu öffentlichen Protesten. Dabei wissen die Beteiligten, dass sie mit Haftstrafen von bis zu zehn Jahren oder mehr rechnen müssen. Einen »Kampf auf Leben und Tod mit der Dalai-Clique« hat der von Peking bestellte Parteisekretär ausgerufen. Tibeter sind aus Ämtern und Parteipositionen entfernt worden, weil man sich ihrer Loyalität nicht sicher war. Über dem Land liegt ein Klima der Angst.
Ebenso einschneidend für die Tibeter ist Chinas Wirtschaftspolitik, mit der Peking die Modernisierung Tibets vorantreiben will – allerdings auf dem Rücken der Tibeter, die vom chinesischen Entwicklungsmodell buchstäblich überrollt werden. So hat die neue Bahnlinie nach Lhasa vier Milliarden Dollar gekostet. Sie ist Teil von Chinas Infrastrukturplan »Großer Sprung nach Westen«. Doch der Bau geht auf strategische und politische Interessen zurück, die bis in die vierziger Jahre zurückreichen: Hauptprofiteure sollten demnach die Besatzungstruppen, chinesische Unternehmen und Siedler sein – nur nicht das tibetische Volk. Tibeter haben weder die Chance, in der von Chinesen dominierten Wirtschaft zu bestehen, noch können sie von deren Erfolg profitieren. Tibet ist Schlusslicht im Bildungsbereich in ganz China, die Gesundheitsversorgung auf dem Land ist miserabel.
Im Sommer 2007 leistete sich Peking einen weiteren Affront: Mit dem »Reinkarnationsgesetz« will die Zentralregierung von nun an Reinkarnationen buddhistischer Lamas genehmigen und damit offensichtlich die Nachfolge des Dalai Lama in die eigene Hand nehmen. Tibeter verstehen das als Angriff auf den Kern des tibetischen Buddhismus und damit auf ihre Identität. Gleichzeitig weicht die chinesische Seite bei den seit 2002 stattfindenden Gesprächen mit den Tibetern kein Jota von ihrer Politik ab. Was einst als hoffnungsvoller Ansatz zur Lösung der Tibet-Frage galt, entpuppte sich mit der Zeit immer mehr als Instrument einer Beschwichtigungs- und Hinhaltetaktik der Chinesen. Dem Dalai Lama unterstellen sie, er handele wider besseres Wissen, sei ein »Spalter« oder verfolge die Unabhängigkeit Tibets. Spätestens nach dem ergebnislosen Ende der sechsten Dialogrunde im Sommer 2007 ist klar, dass die chinesische Seite keinen konstruktiven Beitrag zum Fortgang der Gespräche leisten will und mit Blick auf das Alter des Dalai Lama auf Zeit spielt.
Dabei gibt es kaum noch etwas, was die Tibeter den Chinesen als Konzession anbieten könnten. So rief die tibetische Exilregierung im März 2006 weltweit zu einem Stopp von öffentlichen Protesten bei Auslandsbesuchen der chinesischen Staatsführung auf. Die Hoffnung, damit eine »vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre« zu schaffen, zerschlug sich. Aus Peking kam keine Reaktion, die moderaten Tibeter wurden vor ihrer Anhängerschaft diskreditiert. Nicht ohne Grund spricht die tibetische Seite deswegen auch davon, dass sich die Dialoggespräche an einem »kritischen Punkt« befinden.
Und auch unter Chinesen werden Stimmen laut, die einen Wechsel in der Tibetpolitik Pekings einfordern. Knapp 30 chinesische Schriftsteller, Wissenschaftler und Intellektuelle haben im März mit »Zwölf Ratschlägen für den Umgang mit der Situation in Tibet« an die Staatsführung in Peking zu Versöhnung zwischen Tibetern und Chinesen aufgerufen. Peking müsse von der nationalistischen Rhetorik absehen und einer Politik folgen, die den »Standards moderner Zivilisation« entspreche. Der Aufruf ist ein außerordentlich wichtiges Signal. Es zeigt, dass in China, zwar in sehr begrenztem Rahmen, ein Umdenken möglich ist. Doch diese kleine Gruppe von Intellektuellen gefährdet auch sich selbst. Noch im Dezember 2007 hatte der chinesische Rechtswissenschaftler Teng Biao in einem Interview mit einer deutschen Tageszeitung Treffen von Staats- und Regierungschefs mit dem Dalai Lama ausdrücklich begrüßt. Im März 2008 war er zwei Tage lang »verschwunden«. Menschen wie er benötigen unseren Schutz, damit sich in der chinesischen Gesellschaft auf Ausgleich mit den Tibetern bedachte Stimmen letztlich durchsetzen.
Die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, ob sich Tibet an einem Schluss- oder Wendepunkt befindet. Schlüssel zur Lösung ist der Dalai Lama, der immer noch über ausreichend Autorität unter den Tibetern verfügt, um eine auf Ausgleich gerichtete Lösung mit der Führung in Peking aushandeln zu können. Notwendig sind vor allem die Unterstützung durch die Staatengemeinschaft und der Einsatz der Menschenrechtsbewegung für Tibet. Denn ohne Druck auf Peking werden wir weiterhin Bilder wie die der vergangenen Wochen sehen.
Kai Müller
Kai Müller ist Geschäftsführer der International Campaign for Tibet Deutschland e.V.
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