Aktuelles: Tibet – Gedenken trotz Repression: Lhasa „wie ein Kriegsgebiet“

Washington, Berlin, 22. März 2010. Trotz massiver Sicherheitsmaßnahmen und erhöhter Militärpräsenz gedachten Tibeter in Tibet am 10. und 14. März zwei wichtiger Jahrestage. In der Region Amdo in Osttibet protestierten hunderte Tibeter, unter anderem um auf die andauernde Repression in Tibet aufmerksam zu machen. An zwei dieser Demonstrationen in Machu (chin. Maqu) und Tsoe City (chin. Hezuo), beide in der Provinz Gansu, nahmen auch Schüler teil, deren Schulen deshalb nun militärisch abgeriegelt sind. Die Atmosphäre in Lhasa indes war um den 10. bis 14. März äußerst angespannt. Ein tibetischer Bewohner der Stadt beschrieb sie „wie ein Kriegsgebiet“.

Die International Campaign for Tibet hat seit dem 10. März 2008 über 230 Proteste beobachtet, die in großer Mehrheit friedlich verliefen. An ihnen beteiligt waren fast alle Bevölkerungsschichten: Lehrer, Schüler und Studenten, Intellektuelle, Mönche und Nonnen, Bauern und Nomaden. Informationen über Proteste sind aufgrund des verbreiteten Klimas der Angst nur sehr schwer zu erhalten. Überdies unterbinden die chinesischen Behörden systematisch jeglichen Nachrichtenfluss nach außen. Erstmals erstrecken sich anhaltende Proteste in Tibet über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren.

Schülerproteste in Machu

Am zweiten Jahrestag der Proteste und Unruhen in Lhasa am 14. März 2008 begannen rund 20 bis 30 Schüler der tibetischen Mittelschule in Machu gegen Mittag friedlich zu demonstrieren, nachdem die Behörden Sicherheitsmaßnahmen verschärft  und den Schülern das Verlassen des Schulgeländes im Vorfeld des Jahrestages des tibetischen Volksaufstandes untersagt hatten. Mindestens drei Quellen aus dem Exil, die Kontakt zu Tibetern in der Region halten, berichten, dass die Schüler bald von mehr als einhundert (manche Quellen berichten sogar von mehreren hundert) Anwohnern unterstützt wurden, als sie entlang der Hauptstraße von Machu protestierten. Dieselben Quellen berichten, dass „Freiheit für Tibet“, „Lang lebe seine Heiligkeit der Dalai Lama“ und „Chinesen raus aus Tibet“ während der Demonstration, aber auch Rufe nach einer Lösung der Tibetfrage über Dialog skandiert wurden.

Die Schüler und Anwohner wurden von Polizisten und Soldaten umstellt, bevor ihre Lehrer sie dazu überreden konnten, zur Schule zurückzukehren. Einem Bericht von Radio Free Asia aus Kathmandu zufolge sollen mehr als 40 Tibeter verhaftet worden sein. (“Tibetan Students Stage Protest,” Radio Free Asia, 16. März 2010, www.rfa.org/english/news/tibet/youths-03162010144451.html.)

Weiterhin hat eine Quelle gegenüber Radio Free Asia berichtet, dass nach den Protesten der Schulleiter Kyabchen Dedrol sowie zwei Assistenten, Do Re und ein weiterer Angestellter, dessen Name nicht bekannt ist, entlassen wurden. Dieselbe Quelle berichtet, dass der Leiter des Büros für öffentliche Sicherheit, Sonam Tse, ebenfalls entweder entlassen oder degradiert wurde. Der Leiter der Schulverwaltung in Machu, ein chinesischer Beamter, der direkt für die Mittelschule verantwortlich ist, musste mit keinen Konsequenzen rechnen, so RFA.

Die Militärpräsenz in Machu wurde seit den Protesten stetig erhöht, Geschäfte und Restaurants mussten schließen. Die Reisemöglichkeiten zu benachbarten Regionen wurden eingeschränkt, auch der Zugang zu Internet und Telefon wurde beschränkt.

Weitere Proteste von Schülern und Studenten in Kanlho

Mehreren tibetischen Quellen zufolge demonstrierten am 16. März Schüler zweier Mittelschulen in Tsoe, die tibetische Mittelschule von Kanlho und die städtische Mittelschule von Tsoe, friedlich und öffentlich auf den Straßen. All diese Schüler waren im Vorfeld des 10. März daran gehindert worden, ihre als Internate betriebenen Schulen zu verlassen. Eine tibetische Quelle mit Kontakten in der Region berichtet, dass rund 30 bis 40 Schüler an der Demonstration teilnahmen, die aber schnell aufgelöst wurde, nachdem die Schüler von bewaffneten Sicherheitskräften umstellt worden waren. Mehr als 20 Schüler im Alter von 15 Jahren aufwärts sollen verhaftet worden sein und befinden sich anscheinend immer noch in Gewahrsam, um verhört zu werden und zur „Erziehung“. Dieselbe Quelle sagte: „Die Schüler wehrten sich gegen die Einschränkungen vor dem 10. März und wollten dagegen protestieren. Jetzt ist die Schule von bewaffnetem Militär umstellt. Sie stehen am Haupteingang und um die ganze Schule herum. Eltern sind auch dort und bitten darum, ihre Kinder sehen zu dürfen, doch die Schule ist abgeriegelt und alle Schüler müssen nun im Gebäude bleiben. Die Soldaten konfiszierten auch die Mobiltelefone der Schüler. Es scheint eine verstärkte Truppenaufstockung in der Region zu geben, ein Anwohner sagte mir, er habe fünf oder sechs Militärtransporter voll mit Soldaten gesehen, die in einige Dörfer in der Nähe der Schule fuhren. In Machu sieht es genauso aus, Soldaten patrouillieren Tag und Nacht und die Menschen haben große Angst, abends das Haus zu verlassen.“

Tibetische Schüler und Studenten in der Region hatten sich bereits 2008 an friedlichen Protesten beteiligt: Studenten von Bildungseinrichtungen in Tsoe, darunter die tibetische Hochschule für Medizin und das Institut für die Ausbildung von Lehrern, hatten am 17. März 2008 in Tsoe protestiert, wobei mindestens eine der Demonstrationen von bewaffneten Sicherheitskräften blockiert wurde (Bericht des „Tibetan Center for Human Rights and Democracy“, 17. März 2008).

Üblicherweise folgen auf Proteste intensive Überwachung und Ermittlungen, Verhaftungen können noch nach Wochen stattfinden. Zudem ist es typisch, dass Personen, die an Protesten seit März 2008 beteiligt waren, hart bestraft werden. Meist wird ihnen „Anstiftung zur Spaltung der Nation“ zur Last gelegt, was mit lebenslanger Haft bestraft wird, anstatt sie wegen Vergehen gegen die öffentliche Ordnung zu verurteilen. (Eine Liste der politischen Gefangenen aus Tibet, einschließlich Strafmaß und weiteren Details kann hier eingesehen werden (englischsprachig): http://www.savetibet.org/action-center/current-ict-campaigns/political-prisoners).

Mönche nach friedlichen Protesten festgenommen

Am 10. März verteilten einige der 400 Mönche des Ditsa Klosters in Amdo Flugblätter auf dem Gelände des Klosters und klebten Plakate, auf denen sie ihre Loyalität zum Dalai Lama und ihren Wunsch nach einem „freien Tibet“ ausdrückten. Im Exil lebende Tibeter mit Kontakt zu Tibetern in der Region berichten, dass zunächst mindestens 30 Sicherheitskräfte in das Kloster eindrangen und später durch mehr als 100 Sicherheitskräfte verstärkt wurden. Sie verhafteten den 18-jährigen Jamyang aus Tsigortang (chin. Xinghai) in Tsolo (chin. Hainan Autonome Präfektur) in der Provinz Qinghai. Ferner den 19-jährigen Yeshe, ebenfalls aus Tsigortang, sowie den etwa 35-jährigen Lama Tulku Woeser, der nach dreitägiger Vernehmung wieder entlassen wurde.

Dieselbe Quelle berichtet, dass Truppen außerhalb des Klosters Zelte aufstellten, die Bewegungsfreiheit der Mönche einschränkten und religiöse Zusammenkünfte verhinderten, beispielsweise wurden eine formelle religiöse Debatte sowie eine weitere Zeremonie verboten. Die Quelle berichtet weiterhin, dass die Klosterschule ebenfalls am 10. März geschlossen wurde. Diese Schule wird von mehr als 60 jungen Mönchen besucht, die in tibetischer und chinesischer Sprache sowie in Mathematik unterrichtet werden.

Stilles Gedenken in Lhasa, erhöhte Sicherheitsvorkehrungen

Sicherheitsmaßnahmen in und um Lhasa wurden im Vorfeld und während der Jahrestage am 10. und 14. März massiv verschärft. Ein Einwohner meldete mehr als zehn Kontrollpunkte auf dem Weg zum Flughafen am 9. und 10. März und sagte, Lhasa sei „wie ein Kriegsgebiet“. Ein Tibeter im Exil berichtet: „Wir rufen am 10. März niemanden in Lhasa an, das wäre zu gefährlich für sie.“

Radio Free Asia zufolge schlossen am 14. März tibetische Besitzer von Hotels und Restaurants in Lhasa ihre Betriebe. Ein Anwohner sagte gegenüber RFA: „Sie wurden angewiesen, ihre Geschäfte wie üblich zu öffnen und man sagte ihnen, wenn sie ihre Geschäfte nicht öffnen würden, würde man ihnen ihre Werbekarren wegnehmen. Die Tibeter öffneten ihre Geschäfte nicht und gedachten dem Jahrestag des 14. März in aller Stille.“

Beginnend am 2. März 2010 führten die Behörden eine „Hart-Durchgreifen“ Kampagne durch, infolge derer in Lhasa mehrere hundert Tibeter verhaftet und verhört worden sind. Eine ähnliche Kampagne war auch schon im Vorfeld des 50. Jahrestages des Volksaufstandes von 1959 im März 2009 durchgeführt worden. Die Durchführung solcher Maßnahmen ist vor großen Ereignissen wie nationalen Feiertagen oder jährlichen Regierungs- und Parteikonferenzen üblich und wird in vielen Teilen der Volksrepublik angewendet, oft mit der Begründung, man wolle „die soziale Umwelt säubern“. Wie schon bei der „Hart-Durchgreifen“ Kampagne in Tibet 2009 scheint die beispiellose Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen in der Region das Ziel zu haben, die Tibeter vor dem 10. März noch weiter einzuschüchtern.

Die tibetische Autorin Woeser schreibt in ihrem Blog während des tibetischen Neujahrfestes im letzten Monat aus Lhasa: „Im Februar können wir mit dem Losar-Fest in Lhasa auch einige besondere Farben beobachten: Eine davon ist grün, sie repräsentiert Soldaten mit Waffen in ihren Händen, die wild in Tibets Straßen umher rennen. Wenn ihnen jemand über den Weg läuft, muss er schnell Platz machen, andernfalls wird er unvermittelt zur Seite gestoßen. Es gibt auch einige Soldaten, die verwegen auf den Dächern tibetischer Häuser stehen, von dort oben herabblickend und tapfer die nach Atem ringenden vorbeilaufenden Tibeter bedrängend. Die andere Farbe ist blau, sie steht für die Polizisten, die auch Waffen in ihren Händen tragen, nicht wenige von ihnen sind Tibeter. Ich war selbst Zeuge, wie ein junger Tibeter, der Buddha seine Ehrerbietung erwies, weggestoßen und, als er sich tapfer wehrte, von einem tibetischen Polizisten an der Kehle gepackt wurde. Eine weitere Farbe verändert sich ständig. Ich bin nicht sicher, wie oft diese Zivilfahnder ihre Kleidung gewechselt haben. Ich habe sogar gehört, dass manche von ihnen Mönchsgewänder anziehen und in den Tempeln umherspazieren. Oder sie geben vor, Touristen zu sein, mit Rosenkränzen am Handgelenk.“ (Originaltext: www.highpeakspureearth.com/2010/03/lhasa-in-february-by-woeser.html).

Kontakt:

Kai Müller
Geschäftsführer / Executive Director
International Campaign for Tibet Deutschland e.V.
Schönhauser Allee 163
D-10435 Berlin
Tel.: +49 (0) 30 27879086
Fax: +49 (0) 30 27879087
E-Mail: presse(at)savetibet.de

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