Tibet-Politik
21. November 2003
Überblick
Viele Aspekte des Klosterlebens in Tibet werden systematisch von der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) kontrolliert und eingeschränkt. Die dabei angewandten Methoden und die Intensität der Kontrolle schwanken stark über die verschiedenen Gebiete Tibets, einige Regionen genießen größere Freiheiten als andere.
Chinas oberste Führung ist besorgt über die anhaltende Popularität und die schnelle Ausbreitung des tibetischen Buddhismus. Die KPCh verlangte öffentlich, der Verbreitung der Religion in Tibet Einhalt zu gebieten. Zusätzlich setzten die Behörden eine ganze Flut neuer Regelungen in Kraft, welche die Klöster genauerer Überprüfung und strengerer Kontrolle unterwarfen.
Hintergrund
Von 1959 bis in die späten siebziger Jahre waren die chinesischen Behörden systematisch bemüht, die meisten Aspekte des tibetischen Buddhismus zu zerstören. Auf dem Höhepunkt der Kulturrevolution verfolgte die Partei die Absicht, jeglichen Glauben und jegliche religiöse Praxis vollständig auszurotten und war verantwortlich für den Tod tausender Tibeter. Über sechstausend Klöster und Tempel wurden zerstört, das gesamte monastische System Tibets praktisch ausgelöscht. Zehntausende Nonnen und Mönche wurden hingerichtet, in Arbeitslager deportiert oder in ihre Dörfer zurückgeschickt. Jegliche religiöse Aktivität war untersagt. In den späten siebziger Jahren mündete das Ende der Kulturrevolution und die folgende Lockerung der Einschränkungen religiöser Aktivität in eine für die Religion verhältnismäßig liberale Periode. Die Klöster in Tibet wurden zum Teil wieder aufgebaut, das klösterliche Leben wiederbelebt und die persönliche religiöse Praxis nahm langsam wieder zu.
Die Politik Der Chinesischen Regierung
1994 jedoch leitete das Dritte Nationale Arbeitsforum in Tibet erneut weitgreifende Restriktionen gegen die Religion ein. Diese Regelungen umfassten: schärfere Kontrollen monastischer Institutionen, das Verbot von Wiederaufbau religiöser Gebäude (sofern keine offizielle Erlaubnis erteilt wurde), die Beschränkung der Anzahl von Mönchen und Nonnen pro Kloster sowie deren Überwachung, Erfassung in Registern und Umerziehung. Erneut wurden energische Anstrengungen unternommen, um die Religiosität unter tibetischen Mitgliedern der Kommunistischen Partei zu unterbinden. Desweiteren rief das Dritte Arbeitsforum eine ausgesprochen aggressive und feindselige Kampagne gegen die Autorität des Dalai Lama ins Leben. Die KPCh bezeichnete den Einfluss des Dalai Lama und der „Dalai-Clique" als Wurzel der Instabilität Tibets.
Eine Anzahl von Verwaltungsstrukturen wurden in Tibet geschaffen, um die religiöse Praxis in für die chinesische Führung akzeptablen Schranken zu halten. Die Demokratischen Verwaltungskomitees (DVC), die in allen Klöstern eingerichtet wurden, um die Richtlinien und Strategien der Partei umzusetzen, überwachen auch entlegene Regionen Tibets. Sie sind Auge und Ohr der Partei in den Klöstern. Gemeinsam mit den hierfür geschaffenen „Arbeitsgruppen" der Regierung suchen sie in den Klöstern nach mutmaßlichen Dissidenten. Zahlreiche Nonnen und Mönche wurden aus ihren Klöstern vertrieben und sogar auf Anraten des jeweiligen Komitees verhaftet. Viele Nonnen und Mönche wurden zu Haftstrafen verurteilt, weil sie ein Bild des Dalai Lama, dem Oberhaupt der Tibeter, besaßen oder weil sie sich weigerten, formell ihren Widerstand gegen den Dalai Lama und seine Politik zu erklären – Handlungen, die heute als politisches Verbrechen gelten. Weitere Einschränkungen der Religionsfreiheit in Tibet umfassen: Altersbeschränkungen für Mönchs- und Nonnennovizen; Begrenzung der Anzahl von Nonnen und Mönchen in den einzelnen Klöstern, Einflußnahme auf die Ernennung von klösterlichen und religiösen Würdenträgern, Ausschluß von Mönchen und Nonnen aus den Klöstern wegen Teilnahme an friedlichen Demonstrationen und Einschränkung ihrer Freizügigkeit.
Jüngste Entwicklungen
Seit 1996 treibt die Partei rigoros die Kampagne zur „patriotischen Umerziehung" voran, indem sie „Arbeitsgruppen" in die Klöster in ganz Tibets schickt. Auf den Versammlungen zur „patriotischen Umerziehung" versuchen diese Gruppen, regimekritische Mönche und Nonnen zu identifizieren, die dann aus dem Kloster ausgeschlossen oder festgenommen werden. Sie stellen sicher, dass die Prinzipien der Partei Oberhand über die buddhistischen Lehren behalten. Mönche und Nonnen werden aufgefordert, sich gegen Separatismus zu wenden, die Einheit von Tibet und China zu unterstützen, den von China ernannten Panchen Lama anzuerkennen, zu verleugnen, dass Tibet jemals unabhängig war oder sein sollte und den Dalai Lama zu denunzieren.
Infolge des nachhaltigen Drucks auf religiöse Führer sind die beiden ranghöchsten religiösen Würdenträger (nach dem Panchen Lama) in den letzten Jahren aus Tibet geflohen. Der Karmapa wagte im Dezember 1999 eine riskante Flucht über den Himalaya und geht nun in einem Kloster in Indien seinen Studien nach. Er floh, um eine angemessene religiöse Ausbildung erhalten zu können. Ein Jahr zuvor floh Ajia Rinpoche, der Abt des Klosters Kumbum, in die USA. Er hatte sowohl in der Zentralregierung als auch in der Provinzverwaltung hochrangige Stellungen inne. Er floh hauptsächlich, weil die Behörden ihn zwingen wollten, den Dalai Lama zu denunzieren und mit religiös verbrämten Strategien zur Untergrabung des tibetischen Buddhismus beizutragen.
Inhaftierung Von Mönchen Und Nonnen
Rund die Hälfte aller tibetischen politischen Gefangenen sind Mönche oder Nonnen. Hunderte von Mönchen werden in Gefängnissen, Zuchthäusern und Arbeitslagern in Tibet festgehalten. Nahezu alle inhaftierten Mönche und Nonnen regelmässig brutal geschlagen, vor allem in der Anfangsphase der Verhöre. Zur Folter werden gewöhnlich Schläge eingesetzt, das Aufhängen an den Armen, Elektroschocks in Mund und Genitalien, Aussetzung extremer Kälte und Vergewaltigung.
1995 erkannte der Dalai Lama einen sechs Jahre alten Jungen als Reinkarnation des Panchen Lama an, des zweithöchsten Würdenträgers in Tibet. Wenige Tage später wurde der Junge von der chinesischen Regierung entführt. Sein weiteres Schicksal ist noch immer unbekannt. Die Partei ernannte einen anderen Jungen zum 11. Panchen Lama und befahl Mönchen und tibetischen Kadern, den Dalai Lama offiziell für seine Handlung zu verurteilen. Diese Aktion signalisierte den Versuch Beijings, einen neuen Keil in den tibetischen Buddhismus zu treiben und ihre Kontrolle über die religiösen und weltlichen Angelegenheiten der Tibeter weiter zu festigen.
Wir Fordern
Um Religionsfreiheit in Tibet zu garantieren, sind tiefgreifende strukturelle Reformen des chinesischen politischen Systems notwendig. Als einleitende Maßnahmen:
- müssen die „Demokratischen Verwaltungskomitees" in Tibet aufgelöst werden;
- müssen die „Arbeitsgruppen" in den Klöstern abgeschafft werden;
- müssen politische Häftlinge, einschliesslich des Panchen Lamas, entlassen werden;
- muss den Tibetern erlaubt werden, ihre religiösen Führer selbst auszuwählen und einzusetzten;
- muss den Tibetern gestattet werden, den Dalai Lama zu verehren und getreu ihrer Tradition sein Bild zu zeigen;
- muss die Mindestalter-Regelung für den Eintritt ins Kloster abgeschafft werden.
Weiterführende Literatur
- International Campaign For Tibet, „A Season to Purge: Religious Repression in Tibet.", Washington 1996
- MacInnis, Donald E. (Ed), „Religion im heutigen China", Nettetal 1993
- Panchen Lama, „A Poisoned Arrow: The Secret Report of the Panchen Lama.", London 1997
- Schwarz, Ronald, „Circle of Protest", New York 1994
- Ya Hanzhang, „Biographies of the Tibetan Spiritual Leaders Panchen Erdenis.", Beijing 1996