Tibet-Politik
21. November 2003
Willkürliches Festhalten, lange Haftstrafen und Folter zahlreicher Tibeter sind weiterhin alltäglicher Bestandteil der chinesischen Herrschaft in Tibet. Die Strategie Chinas zielt darauf ab, jeglichen Widerstand gegen ihre kommunistische Gewaltherrschaft über Tibet zu unterdrücken. Tibeter machen nur 0,2 Prozent der gesamten unter chinesischer Herrschaft lebenden Bevölkerung aus. Dennoch sind im Jahre 1995 laut Human Rights Watch in Tibet mehr Verhaftungen politischer und religiöser Gefangener bekannt geworden als in allen anderen Regionen Chinas zusammen.
Unabhängige internationale Menschenrechtsbeobachter haben Fälle von rund 1.000 politischen Gefangenen dokumentiert, die noch immer in den zahlreichen chinesischen Gefängnissen, Straf- und Arbeitslagern in Tibet leiden. Die Identität vieler politischer Häftlinge konnte nie von unabhängigen Beobachtern untersucht und bestätigt werden. Informationen über das Schicksal von Dutzenden tibetischer Dissidenten wird ihren Familien und der Außenwelt vorenthalten.
Chinesische Behörden haben harte Maßnahmen ergriffen, um den Informationsfluß zwischen Tibet und der Außenwelt zu unterbinden. Regierungsbeamte weigern sich beispielsweise, Namen von politischen Gefangenen der Öffentlichkeit preiszugeben und reagieren auf internationale Untersuchungen mit unvollständigen und gefälschten Berichten. Delegationen, die den Dingen auf den Grund gehen möchten, haben praktisch keinen Zugang zu den Gefangenen, sie erhalten nur selten die Erlaubnis, Gefängnisse zu besuchen.
Hintergrund
Im Zuge der Anti-Rechts-Kampagne der späten 50er Jahre wurden zehntausende Tibeter in Arbeitslager verschleppt, weil sie Kritik am Kommunismus oder an der kommunistischen Partei geübt oder sich des ideologischen Verbrechens eines „regionalen Nationalismus" schuldig gemacht hatten. Tausende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und religiöse Führer wurden wegen ihres Ranges und Reichtums in Arbeitslager und Gefängnisse deportiert. Während der Aufstände gegen die chinesische Besatzung, die in den Jahren 1956 bis 1959 ganz Tibet überzogen, wurden tausende Tibeter wegen ihrer Unterstützung oder Sympathie für die Widerstandsbewegung verhaftet. Während und nach den Demonstrationen von 1987-1989 wurden Tibeter erneut ohne Gerichtsverfahren für lange Zeitspannen festgehalten oder wegen ihres friedlichen Eintretens für die Unabhängigkeit Tibets inhaftiert.
Jüngste Entwicklungen
Die Mehrheit der politischen Häftlinge bilden Mönchen und Nonnen. Doch der Widerstand unter der Laienbevölkerung und die Zahl der politischen Verhaftungen in den ländlichen Gebieten Zentraltibets hat zugenommen. Hunderte regimekritische Jugendliche, Lehrer und Laien sind die Träger einer neuen Welle tibetischen Nationalismus und werden für ihren Widerstand oft grausam bestraft.
Fast alle tibetischen Gefangenen wurden wegen des Verdachts auf anti-chinesische Gesinnung oder Meinungen ohne Haftbefehl ins Gefängnis geworfen, willkürlich festgehalten oder verurteilt.
Anlaß für Verhaftungen sind: das Drucken von politischen Flugblättern, Bildung von „konterrevolutionären" Organisationen, Spionage und Weitergabe von Informationen an die „Dalai-Clique", das Rufen reaktionärer Slogans, Anstiftung zu „reaktionären Liedern", das Hissen oder der Besitz der tibetischen Flagge, fehlende Reformbereitschaft und die Teilnahme an Demonstrationen.
Hunderte von Tibetern, einschliesslich derer, die seit langer Zeit ohne Gerichtsverfahren festgehalten werden oder wegen „konterrevolutionärer Verbrechen" inhaftiert wurden, sind eingekerkert worden, ohne rechtlichen Beistand genossen zu haben. Das chinesische Recht erlaubt Umerziehung oder Internierung durch die Gefängnisverwaltung bis zu drei Jahren ohne Gerichtsverfahren. Auf die willkürliche Internierung, die sogenannte Administrativhaft, folgt oft eine offizielle Verurteilung zu einer weiteren Haftstrafe. Das durchschnittliche Strafmaß beträgt 6,5 Jahre. Einige Haftstrafen wurden wegen Verstößen gegen die Gefängnisdisziplin drastisch erhöht. Hohe Strafmaße reichen von 12 bis 19 Jahren und werden meist Tibetern auferlegt, die Führungsrollen eingenommen oder ihre Ideen durch Wort und Schrift verbreitet haben. Takna Jigme Sangpo beispielsweise wurde eine der längsten Haftstrafen in Tibet auferlegt. Er wurde erst im Alter von 73 Jahren entlassen, nach mehr als drei Jahrzehnten Haft.
Folter ist in den Gefängnissen, Straf- und Arbeitslagern in ganz Tibet weiterhin an der Tagesordnung. Es wurden systematisch Foltermethoden entwickelt, die gegen politische Gefangene eingesetzt werden: die Mehrheit der Dissidenten wird nach der Festnahme und während der Haft heftig geschlagen. Folter wird mit intensiven Verhören kombiniert, um Geständnisse zu erzwingen. Gefoltert wird durch Schläge und Tritte, Elektroschock an empfindlichen Stellen des Körpers wie den Genitalien oder dem Mund, durch Verbrennen der Haut mit glühenden Gegenständen, selbstverengende Handschellen und lange Isolationshaft. Geschlechtsspezifische Foltermethoden umfassen beispielweise die Demütigung von Frauen durch Entkleidung und durch sexuellen Mißbrauch. Ausgeklügelte Formen der Folter, nach denen z. B. Gefangene extremen Temperaturen ausgesetzt werden, hinterlassen kaum sichtbare Spuren und werden jetzt anstelle von offensichtlicheren Formen körperlicher Mißhandlung eingesetzt. Die medizinische Versorgung von Gefangenen ist ungenügend. Oft ist nicht einmal elementare erste Hilfe im Falle ernsthafter Verletzungen oder Krankheiten verfügbar. Es gibt zahlreiche Berichte über Tibeter, die in Gefängnissen an Folter und Mißhandlung starben. Ein Beispiel ist Ngawang Lochoe, eine 28 Jahre alte Nonne, der wegen ihrer Teilnahme an einer Demonstration in Lhasa eine zehnjährige Haftstrafe auferlegt wurde. Sie starb am 5. Februar 2000 an den Folgen schwerer Schläge durch die Gefängniswächter.
Die Politik Der Chinesischen Regierung
Die Zahl der Tibeter, die wegen ihrer politischen Ansichten oder ihres religiösen Glaubens verhaftet werden, steigt weiter. Dies ist offensichtlich eine Folge der rigorosen Richtlinien, die 1994 vom Dritten Nationalen Forum für Arbeit in Tibet beschlossen wurden. Verstärkte Sicherheitsmaßnahmen, wie beispielsweise die wiederholte Festnahme und kurzfristige Inhaftierung mutmaßlicher Dissidenten, werden oft angewendet, um mögliche Regimekritiker einzuschüchtern und abzuschrecken.
Das Gefängnissystem in Tibet untersteht – im Gegensatz zu Regelungen in den anderen von China verwalteten Provinzen – dem Ministerium für öffentliche Sicherheit, nicht dem Justizministerium. Dies hat zur Folge, dass Polizeifahndung, Überwachung von Demonstrationen, Beobachtung und Verhaftung von Verdächtigten sowie die Gefängnisverwaltung in der Hand einer einzigen Regierungsbehörde liegen. Die Polizei stellt nur selten die Haft- und Durchsuchungsbefehle aus, die vom Gesetz her für Strafverfahren der Volksrepublik China (VRC) vorgeschrieben sind.
Tatsächlich existiert keine Gewaltenteilung, welche die Unabhängigkeit der Rechtsprechung garantieren würde. Gerichtsverhandlungen genügen nicht den internationalen Rechtsnormen. Tibetischen Dissidenten wird weder Rechtsbeistand noch Verteidigung zugestanden. Verweigert man das Geständnis und bekennt sich nicht schuldig, führt dies unausweichlich zu einer härteren Strafe. Gerichte aller Ebenen sind strenger Überwachung und Kontrolle durch Organe der kommunistischen Partei unterworfen. Ein Häftling gilt von vornherein als schuldig. Sein Strafmaß wird meist im Vorfeld des Gerichtsverfahrens von Parteifunktionären festgelegt.
Wir Fordern
- Entlassung aller Gefangenen, die allein wegen ihrer gewaltlosen Überzeugung oder ihrer friedlichen Aktivitäten verhaftet wurden;
- Entlassung aller Gefangenen, die wegen „konterrevolutionärer Verbrechen" verurteilt wurden, ein Strafbestand, der inzwischen aus dem Strafgesetzordnung der VRC gestrichen wurde;
- Offenlegung aller Details über Gefangene, die internationalen Beobachtern bisher vorenthalten wurden;
- Zugang zu den Häftlingen für internationale Menschenrechtsorganisationen;
- Einhaltung internationaler Normen für Gerichtsverfahren durch den Schutz der Rechte des Angeklagten;
- Gerichtsverfahren und Indizien, auf denen strafrechtliche Verurteilungen basieren, müssen öffentlich sein;
- unvoreingenommene Überprüfung aller Fälle, in denen Haftstrafen für angeblich gewaltsame oder kriminelle Handlungen während Demonstrationen ausgesprochen wurden;
- Untersuchung aller Anklagen hinsichtlich Folter und sexuellen Mißbrauchs und die Veröffentlichung der Ergebnisse.
Weiterführende Literatur
- Amnesty International, „Persistent Human Rights Violations in Tibet", London 1996
- Physicians For Human Rights, „Striking Hard: Torture in Tibet", Boston 1997
- Tibet Information Network (TIN), „Invisible Chains – Life after Release for Tibetan Political Prisoners", London 2001
- Tibet Information Network (TIN), „In the Interest of the State. Hostile Elements III – Political Imprisonment in Tibet 1987-2001", London 2002
- Tibetan Center for Human Rights and Democracy (TCHRD), „Drapchi Prison: Tibet’s most Dreaded Prison", Dharamsala 2001