Tibet-Politik
Trauer und Bitterkeit über Pekings Herrschaft in Tibet
Petra Kolonko, Frankfurter Allgemeine Zeitung
19. September 2002
Lhasa, Tibet – Fünfzig Jahre kommunistischer Herrschaft über Tibet, fünfzig Jahre Kampagnen, Umerziehungsmaßnahmen, Terror und Einschüchterung haben das Ziel nicht erreicht, den Tibetern die Religiosität auszutreiben, die Mönche zu Museumswärtern zu degradieren und das Ansehen des im indischen Exil lebenden Dalai Lama zu untergraben.
Vor dem leeren Thron des 14. Dalai Lama wirft sich eine Tibeterin mit ihren beiden Kindern ehrerbietig zu Boden. Der Thron im früheren Audienzzimmer des Norbulingka-Palastes ist mit einem Glaskasten eingefaßt, damit niemand ihn berühren kann. Der Glaskasten erfüllt aber auch den Zweck, den Blick in die hintere Ecke des Raumes zu behindern. Dort wäre in einer Wandmalerei ein Porträt des 14. Dalai Lama zu entdecken. Es ist das einzige Bild des religiösen Oberhauptes der Tibeter, das an einem öffentlichen Ort der tibetischen Hauptstadt (fast) zu sehen ist.
Die Sommerresidenz der Dalai Lamas ist für die Chinesen ein Museum, für die Tibeter aber noch immer ein Heiligtum. Fünfzig Jahre kommunistischer Herrschaft über Tibet, fünfzig Jahre Kampagnen, Umerziehungsmaßnahmen, Terror und Einschüchterung haben das Ziel nicht erreicht, den Tibetern die Religiosität auszutreiben, die Mönche zu Museumswärtern zu degradieren und das Ansehen des im indischen Exil lebenden Dalai Lama zu untergraben. Die Pilger strömen weiterhin nach Lhasa, werfen sich vor den Heiligtümern in den Tempeln nieder, murmeln Gebete, drehen Gebetsmühlen. Vor dem Jokhang-Tempel im Zentrum Lhasas vollziehen Alte und Kinder die mühsame Fortbewegung per Niederwerfung.
Mönche und Nonnen in Gefangenschaft
In den Klöstern gibt es junge Mönche und Nonnen. Gebetsfahnen wehen über Häusern und Bergen. In dem zum Museum umfunktionierten Potala-Palast sprechen Tibeter Gebete, die von den geleierten Erklärungen der Fremdenführer übertönt werden. Vor allem ist es der chinesischen Regierung weder mit Zuckerbrot noch mit der Peitsche gelungen, die religiöse Elite ganz auf ihre Seite zu ziehen. In Gesprächen, die im Beisein chinesischer Aufpasser stattfinden, ziehen viele Mönche es vor, auf Fragen nach dem Dalai Lama oder der chinesischen Religionspolitik lieber gar keine Antworten zu geben, als die offizielle chinesische Sprachregelung zu wiederholen.
In unbewachten Gesprächen zeigen die Mönche Bitterkeit und Trauer über die Lage in Tibet. Von der Religionsfreiheit, die die chinesischen und die tibetischen Kommunisten beschwören, ist dann nicht mehr die Rede. Ein Mönch, der in der Altstadt von Lhasa Fragen beantwortet, schaut sich vorsichtig um, ob niemand in Hörweite ist. Überall gebe es Spitzel der chinesischen Behörden, sagt er, selbst unter den Mönchen seien viele Informanten. Dann berichtet er, daß die Atmosphäre in den Klöstern gespannt sei, daß sich die chinesische Regierung toleranter gebe, doch nach innen immer noch einen harten Zugriff auf die Religion habe. Weiterhin werden Mönche und Nonnen, die sich loyal zum Dalai Lama verhalten, verhaftet, verurteilt und eingesperrt. Sie werden separatistischer Aktivitäten bezichtigt.
In ganz Tibet gibt es nach offiziellen Angaben derzeit etwa 230 Gefangene, die wegen "Vergehen gegen die Staatssicherheit" verurteilt sind, davon sind sechzig Prozent Mönche und Nonnen. Verschwunden ist der Abt, der es als letzter wagte, sich den chinesischen Anordnungen zu widersetzen, und mit dem Dalai Lama in Kontakt trat. Chadrel Rinpoche sei sechs Jahre in Haft gewesen, nun wisse niemand, nicht einmal seine nahen Angehörigen, wo er sei, sagt ein Mönch. Chadrel Rinpoches "Verbrechen" war es, mit dem Dalai Lama geheimen Kontakt aufzunehmen, um die Inkarnation des Panchen Lama in Tibet zu finden. Auch das Kind, das der Dalai Lama als Inkarnation des Panchen Lama identifiziert hat, ist verschwunden.
Die chinesischen Kommunisten haben mit allen Methoden versucht, Herr über die zwei Millionen Tibeter und ihre Religion zu werden. Die Religionspolitik der Kommunisten war in allen Landesteilen hart, doch Tibet traf sie besonders. Während der Kulturrevolution wurden Klöster und Tempel zerstört, Mönche und Nonnen gezwungen, ein weltliches Leben zu führen. Erst in den achtziger Jahren wurde Religionsfreiheit in strengem Rahmen gewährt. Der Dalai Lama blieb aber ein "Separatist" und somit eine Unperson.
Wirtschaftliche Anreize
Da Zwangsmaßnahmen wenig gefruchtet haben, versucht die chinesische Regierung jetzt, über wirtschaftliche Anreize die Tibeter zu gewinnen. "Wir sagen den Mönchen und Nonnen, was wir für Fortschritte bei der wirtschaftlichen Entwicklung gemacht haben", sagt der tibetische Vizebürgermeister von Lhasa, Ta Jie. Im letzten Jahr habe Tibet eine Wachstumsrate von 16,6 Prozent erreicht. Der Vorsitzende der Provinzregierung von Tibet, Legcoq, berichtet, daß die Zentralregierung Zuwendungen für Tibet von 31,2 Milliarden Yuan (umgerechnet rund 3,9 Milliarden Euro) für die Jahre 2001 bis 2005 genehmigt habe. Dazu gebe es einen Sonderfonds für Investitionen von 36,9 Milliarden Yuan (rund 4,6 Milliarden Euro) für dieselbe Zeit. Die Zentralregierung habe bekanntgegeben, daß von jetzt an jedes Projekt genehmigt werde, das den Lebensstandard in Tibet erhöht.
Denn Tibet ist arm, deutlich ärmer als andere Provinzen Chinas. Beim Durchschnittseinkommen, bei der Lebenserwartung, bei der Bildung und beim Zugang zu ärztlicher Versorgung liegt Tibet nach den Berechnungen der Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen an letzter Stelle aller chinesischen Provinzen. Die meisten Tibeter leben in ländlichen Gebieten. Aber selbst in den Städten Shigatse und Lhasa sind die Zeichen neuen Wohlstandes, die sonst chinesische Provinzstädte zieren, kaum zu sehen. Die Neubauten sind bescheiden, das Warenangebot ist weniger reichhaltig, die Altstadt in Lhasa ist heruntergekommen. Zudem ist das städtische Kleingewerbe fest in der Hand von Chinesen, die aus allen Inlandsprovinzen nach Tibet kommen, weil sie zu Hause keine Arbeit finden und in Tibet sich noch Möglichkeiten bieten; eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis ist hier zudem leicht zu erhalten.
Beginnt jetzt eine neue Politik gegenüber Tibet? Einiges deutet darauf hin. Neben den Investitionen für die Infrastruktur hat die Zentralregierung große Summen für die Renovierung des Potala, des Norbulingka-Sommerpalastes und des Sakja-Klosters versprochen. Gegenüber den Exiltibetern signalisiert die chinesische Regierung Gesprächsbereitschaft. Im Juli durfte erstmals der ältere Bruder des Dalai Lama wieder Tibet besuchen. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren sind in diesen Tagen auch zwei Gesandte des Dalai Lama in Lhasa. Auch die Grenzen sind durchlässiger geworden. 50000 "tibetische Landsleute aus dem Ausland" seien zu Verwandtschaftsbesuchen über Nepal gekommen, berichtet eine tibetische Funktionärin in Shigatse.
Die neue chinesische Außenpolitik weiß um das Ansehen des Dalai Lama im Ausland, und sie will weg vom Image des unterdrückten Tibet. Sie legt Wert auf bessere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, in denen Menschenrechtsverletzungen in Tibet und die Beschränkungen der Religionen in China eine schwerwiegende Belastung darstellen. Es gibt auch Kräfte in der chinesischen Regierung, die eine tolerantere Haltung gegenüber den Religionsgemeinschaften auch aus innenpolitischen Erwägungen befürworten.
Sollte die Zentralregierung wirklich planen, mehr Flexibilität gegenüber dem Dalai Lama zu zeigen, so ist die neue Direktive beim Vorsitzenden der Provinzregierung von Tibet jedenfalls noch nicht angekommen. Legcoq beschimpfte vor Journalisten den Dalai Lama als einen Separatisten und Lügner, der nichts für Tibet getan habe. Selbst wenn der Dalai Lama heute nur mehr Autonomie für Tibet innerhalb Chinas fordere, so sei das doch nichts weiter als die "verkappte Unabhängigkeit".
Petra Kolonko, Frankfurter Allgemeine Zeitung
19. September 2002
Lhasa, Tibet – Fünfzig Jahre kommunistischer Herrschaft über Tibet, fünfzig Jahre Kampagnen, Umerziehungsmaßnahmen, Terror und Einschüchterung haben das Ziel nicht erreicht, den Tibetern die Religiosität auszutreiben, die Mönche zu Museumswärtern zu degradieren und das Ansehen des im indischen Exil lebenden Dalai Lama zu untergraben.
Vor dem leeren Thron des 14. Dalai Lama wirft sich eine Tibeterin mit ihren beiden Kindern ehrerbietig zu Boden. Der Thron im früheren Audienzzimmer des Norbulingka-Palastes ist mit einem Glaskasten eingefaßt, damit niemand ihn berühren kann. Der Glaskasten erfüllt aber auch den Zweck, den Blick in die hintere Ecke des Raumes zu behindern. Dort wäre in einer Wandmalerei ein Porträt des 14. Dalai Lama zu entdecken. Es ist das einzige Bild des religiösen Oberhauptes der Tibeter, das an einem öffentlichen Ort der tibetischen Hauptstadt (fast) zu sehen ist.
Die Sommerresidenz der Dalai Lamas ist für die Chinesen ein Museum, für die Tibeter aber noch immer ein Heiligtum. Fünfzig Jahre kommunistischer Herrschaft über Tibet, fünfzig Jahre Kampagnen, Umerziehungsmaßnahmen, Terror und Einschüchterung haben das Ziel nicht erreicht, den Tibetern die Religiosität auszutreiben, die Mönche zu Museumswärtern zu degradieren und das Ansehen des im indischen Exil lebenden Dalai Lama zu untergraben. Die Pilger strömen weiterhin nach Lhasa, werfen sich vor den Heiligtümern in den Tempeln nieder, murmeln Gebete, drehen Gebetsmühlen. Vor dem Jokhang-Tempel im Zentrum Lhasas vollziehen Alte und Kinder die mühsame Fortbewegung per Niederwerfung.
Mönche und Nonnen in Gefangenschaft
In den Klöstern gibt es junge Mönche und Nonnen. Gebetsfahnen wehen über Häusern und Bergen. In dem zum Museum umfunktionierten Potala-Palast sprechen Tibeter Gebete, die von den geleierten Erklärungen der Fremdenführer übertönt werden. Vor allem ist es der chinesischen Regierung weder mit Zuckerbrot noch mit der Peitsche gelungen, die religiöse Elite ganz auf ihre Seite zu ziehen. In Gesprächen, die im Beisein chinesischer Aufpasser stattfinden, ziehen viele Mönche es vor, auf Fragen nach dem Dalai Lama oder der chinesischen Religionspolitik lieber gar keine Antworten zu geben, als die offizielle chinesische Sprachregelung zu wiederholen.
In unbewachten Gesprächen zeigen die Mönche Bitterkeit und Trauer über die Lage in Tibet. Von der Religionsfreiheit, die die chinesischen und die tibetischen Kommunisten beschwören, ist dann nicht mehr die Rede. Ein Mönch, der in der Altstadt von Lhasa Fragen beantwortet, schaut sich vorsichtig um, ob niemand in Hörweite ist. Überall gebe es Spitzel der chinesischen Behörden, sagt er, selbst unter den Mönchen seien viele Informanten. Dann berichtet er, daß die Atmosphäre in den Klöstern gespannt sei, daß sich die chinesische Regierung toleranter gebe, doch nach innen immer noch einen harten Zugriff auf die Religion habe. Weiterhin werden Mönche und Nonnen, die sich loyal zum Dalai Lama verhalten, verhaftet, verurteilt und eingesperrt. Sie werden separatistischer Aktivitäten bezichtigt.
In ganz Tibet gibt es nach offiziellen Angaben derzeit etwa 230 Gefangene, die wegen "Vergehen gegen die Staatssicherheit" verurteilt sind, davon sind sechzig Prozent Mönche und Nonnen. Verschwunden ist der Abt, der es als letzter wagte, sich den chinesischen Anordnungen zu widersetzen, und mit dem Dalai Lama in Kontakt trat. Chadrel Rinpoche sei sechs Jahre in Haft gewesen, nun wisse niemand, nicht einmal seine nahen Angehörigen, wo er sei, sagt ein Mönch. Chadrel Rinpoches "Verbrechen" war es, mit dem Dalai Lama geheimen Kontakt aufzunehmen, um die Inkarnation des Panchen Lama in Tibet zu finden. Auch das Kind, das der Dalai Lama als Inkarnation des Panchen Lama identifiziert hat, ist verschwunden.
Die chinesischen Kommunisten haben mit allen Methoden versucht, Herr über die zwei Millionen Tibeter und ihre Religion zu werden. Die Religionspolitik der Kommunisten war in allen Landesteilen hart, doch Tibet traf sie besonders. Während der Kulturrevolution wurden Klöster und Tempel zerstört, Mönche und Nonnen gezwungen, ein weltliches Leben zu führen. Erst in den achtziger Jahren wurde Religionsfreiheit in strengem Rahmen gewährt. Der Dalai Lama blieb aber ein "Separatist" und somit eine Unperson.
Wirtschaftliche Anreize
Da Zwangsmaßnahmen wenig gefruchtet haben, versucht die chinesische Regierung jetzt, über wirtschaftliche Anreize die Tibeter zu gewinnen. "Wir sagen den Mönchen und Nonnen, was wir für Fortschritte bei der wirtschaftlichen Entwicklung gemacht haben", sagt der tibetische Vizebürgermeister von Lhasa, Ta Jie. Im letzten Jahr habe Tibet eine Wachstumsrate von 16,6 Prozent erreicht. Der Vorsitzende der Provinzregierung von Tibet, Legcoq, berichtet, daß die Zentralregierung Zuwendungen für Tibet von 31,2 Milliarden Yuan (umgerechnet rund 3,9 Milliarden Euro) für die Jahre 2001 bis 2005 genehmigt habe. Dazu gebe es einen Sonderfonds für Investitionen von 36,9 Milliarden Yuan (rund 4,6 Milliarden Euro) für dieselbe Zeit. Die Zentralregierung habe bekanntgegeben, daß von jetzt an jedes Projekt genehmigt werde, das den Lebensstandard in Tibet erhöht.
Denn Tibet ist arm, deutlich ärmer als andere Provinzen Chinas. Beim Durchschnittseinkommen, bei der Lebenserwartung, bei der Bildung und beim Zugang zu ärztlicher Versorgung liegt Tibet nach den Berechnungen der Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen an letzter Stelle aller chinesischen Provinzen. Die meisten Tibeter leben in ländlichen Gebieten. Aber selbst in den Städten Shigatse und Lhasa sind die Zeichen neuen Wohlstandes, die sonst chinesische Provinzstädte zieren, kaum zu sehen. Die Neubauten sind bescheiden, das Warenangebot ist weniger reichhaltig, die Altstadt in Lhasa ist heruntergekommen. Zudem ist das städtische Kleingewerbe fest in der Hand von Chinesen, die aus allen Inlandsprovinzen nach Tibet kommen, weil sie zu Hause keine Arbeit finden und in Tibet sich noch Möglichkeiten bieten; eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis ist hier zudem leicht zu erhalten.
Beginnt jetzt eine neue Politik gegenüber Tibet? Einiges deutet darauf hin. Neben den Investitionen für die Infrastruktur hat die Zentralregierung große Summen für die Renovierung des Potala, des Norbulingka-Sommerpalastes und des Sakja-Klosters versprochen. Gegenüber den Exiltibetern signalisiert die chinesische Regierung Gesprächsbereitschaft. Im Juli durfte erstmals der ältere Bruder des Dalai Lama wieder Tibet besuchen. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren sind in diesen Tagen auch zwei Gesandte des Dalai Lama in Lhasa. Auch die Grenzen sind durchlässiger geworden. 50000 "tibetische Landsleute aus dem Ausland" seien zu Verwandtschaftsbesuchen über Nepal gekommen, berichtet eine tibetische Funktionärin in Shigatse.
Die neue chinesische Außenpolitik weiß um das Ansehen des Dalai Lama im Ausland, und sie will weg vom Image des unterdrückten Tibet. Sie legt Wert auf bessere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, in denen Menschenrechtsverletzungen in Tibet und die Beschränkungen der Religionen in China eine schwerwiegende Belastung darstellen. Es gibt auch Kräfte in der chinesischen Regierung, die eine tolerantere Haltung gegenüber den Religionsgemeinschaften auch aus innenpolitischen Erwägungen befürworten.
Sollte die Zentralregierung wirklich planen, mehr Flexibilität gegenüber dem Dalai Lama zu zeigen, so ist die neue Direktive beim Vorsitzenden der Provinzregierung von Tibet jedenfalls noch nicht angekommen. Legcoq beschimpfte vor Journalisten den Dalai Lama als einen Separatisten und Lügner, der nichts für Tibet getan habe. Selbst wenn der Dalai Lama heute nur mehr Autonomie für Tibet innerhalb Chinas fordere, so sei das doch nichts weiter als die "verkappte Unabhängigkeit".
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