Tibet-Politik
Ein Rotstich, der verblasst
Kai Strittmatter, Süddeutsche Zeitung
15. November 2002
Beijing – Historischer Moment für das größte Volk der Erde – Chinas KP nimmt Abschied vom Kommunismus. Im Gänsemarsch betraten sie die große Bühne – warum es noch dauern kann, bis der neue Generalsekretär und seine Mitstreiter Konturen zeigen
Ein China, viele Welten. Im Norden von Peking, in einer umgebauten Fabrikhalle, spielt die Band „Stimmensplitter“. Der Yan-Club ist fast leer, knapp 20 Besucher verlieren sich in kargem Betonschick. In Hamburg, Zürich, London sehen Clubs nicht anders aus. „Wir durften keine Werbung machen“, sagt die Managerin, „die Polizei hat gesagt, solange die Partei tagt, wollen sie keine Unordnung. Parties mit mehr als 100 Leuten sind verboten“. Der Band ist’s egal, sie setzt an zu recht düsteren Gitarrenriffs. „Kapitulation“ ist ihr erster Song: über die Kompromisse im Leben, sagt der Sänger. Den Zuhörern gefällt’s, sie applaudieren für fünfzig. Es folgen die Lieder „Falsche Rebellion“ und „Falsche Stille“. Alles falsch in diesem Land heute, sagt einer im Publikum: „Nur eines ist hier noch echt – Leute betrügen, das ist echt.“
Andernorts, im Zentrum Pekings, im Herzen des Reiches spielt die Partei. Dass es so etwas noch gibt: Feierliche Enthüllung der neuen Machthaber in der Großen Halle des Volkes. Es ist ein wenig wie das Warten auf den weißen Rauch in den Kaminen des Vatikans bei der Papstwahl. Hunderte von Journalisten starren ungeduldig ein Wandgemälde an, auf dem sich die Große Mauer durch den Raum windet. Die Phalanx der Fernsehkameras schwenkt wie bei einem Tennisspiel mal nach links, mal nach rechts, je nachdem, wo gerade ein Saaldiener aus Versehen raschelt. Hinter einem der Wandschirme an den beiden Seiten des Raumes müssen sie nämlich hervorkommen: die neuen Führer des größten Volkes der Erde, die Befehlshaber über Chinas Atomwaffen, die neuen Herren über das im Moment wohl verwirrendste und widersprüchlichste Land der Welt.
Neunzig Mal neu
Ein Land, dessen Wirtschaft um weitere acht Prozent wachsen wird in diesem Jahr, in dem es längst mehr Mobiltelefone gibt als irgendwo anders auf der Erde.
Gleichzeitig ein Land, das von einer Partei noch für ihr Eigentum gehalten wird. Ein Land, dessen Diktatoren ihre byzantinischen Rituale der Macht weiter so innig pflegen, als befänden sie sich mit der KP noch immer in Untergrund und Bürgerkrieg. Chinas Kommunisten scheuen das Licht. Hier in Peking lässt sich noch herrlich Teesatz lesen. Der alte Staats- und Parteichef Jiang Zemin geht, haben die Auguren prophezeit in diesem Sommer. Jiang bleibt, sagten dieselben Leute ein wenig später. Vielleicht!, meldeten sie kurz darauf. Jiang hat ihnen jetzt einen Gefallen getan: Er geht, aber nur halb, da dürfen sich alle im Recht fühlen.
Wie eh und je wurde die neue Führung unter höchster Geheimhaltung ausgekungelt: Längst standen sie fest, die neuen Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Politbüros. Aber erst an diesem Freitag soll der Welt die Gnade der Offenbarung zuteil werden. Und darum sitzen sie hier, ausländische und chinesische Reporter und recken gespannt die Hälse. Wenn die Türe aufgeht, werden sie hereinmarschieren, die neuen Herrscher, exakt in der Reihenfolge ihres Platzes in der Hierarchie. „Was passiert eigentlich, wenn einer stolpert und nach vorne fällt?“, fragt der Kollege von Le Temps. Nichts passiert.
Eine Türe geht auf, die rechte, die Kameras reißen herum–und es erscheint hinter dem Schirm der neue Generalsekretär der KP Chinas: Hu Jintao, der 59-Jährige, auf den alle getippt hatten. Dunkelblauer Anzug, rote Krawatte. Reporter greifen zum Handy: „Hu Jintao!“ zischen sie hinein. Hinter Hu marschieren noch acht weitere dunkelblaue Anzüge und rote Krawatten heran. Wie zum Vorsingen bestellte Konfirmanden stehen sie schließlich da, einige fühlen sich sichtlich unwohl. Nur der Mann in der Mitte, die Nummer fünf, grinst, scheint fast zu platzen vor Vergnügen. Die Beobachter notieren es eifrig: Aha!, Zeng Qinghong grinst. Zeng ist ein enger Vertrauter des scheidenden Jiang Zemin, was mag seine gute Laune bedeuten? Die Neun winken. Irgendwie hatten wir uns auf einen historischen Moment eingestellt: Der erste ordentliche Machtwechsel in der Geschichte der Volksrepublik, die Wiedergeburt der KP als Kapitalistenfreundin. Dann spricht Hu Jintao. Dürfen historische Momente so gähnend langweilig sein? Dürfen sie so sehr an die Vergangenheit erinnern? Der Mann sei brillant, behaupten einige. Er weiß das hervorragend zu verstecken.
Ein China, viele Zeiten. In den Städten hat längst der Kapitalismus Fuß gefasst. Teenager treffen sich zum Skateboardfahren, Yuppies in der Techno- Disco, Neureiche zum Golfen. Angestellte kaufen sich ein Appartement, leitende Beamte den Kleinwagen, Jungunternehmer mieten sich in glitzernde Bürotürme ein. Und als am Donnerstag auf dem Parteitag die Abschiedsreden verlesen wurden, da verzichtete selbst das Staatsfernsehen auf Direktübertragung und schaltete lieber live zu den Börsen nach Schanghai und Shenzhen. Wer aber die Schwelle zur Großen Halle des Volkes übertritt, der fühlt sich, als verlasse er dieses Jahrhundert. Welche Ironie, dass die Partei für ihren Kongress das Schlagwort „Wir müssen mit der Zeit Schritt halten“ ausgegeben hatte–sie tat alles, um dieses Vorhaben auf der Stelle zu konterkarieren. Totenstille herrschte, wo der Ort für Debatten gewesen wäre. Abstimmungen endeten mit 100 Prozent Ja-Stimmen.
Einmal mehr regnete es Propaganda-Phrasen und Jubelreden aus dem Munde von Delegierten, denen die Reporter des Staatsfernsehens die Mikrofone unters Kinn hielten, als wären es Pistolen. Dissens gab es über Jiang Zemins Theorie der „Drei Vertretungen“: Während die einen sie als „tiefschürfend“ bezeichneten, empfanden sie die anderen vielmehr als „scharfsinnig“. Eine Frau Doktor Gao aus Jiangxi verkündete, sie werde sofort ihr Krebs-Krankenhaus, der neuen Philosophie folgend, umorganisieren. Der Abgeordnete Zhang aus Qinghai meldete aufgeregt, er habe entdeckt, wie viel Innovativkraft exakt in der Abschiedsrede von Jiang Zemin stecke: Zhang hatte nachgezählt und genau 90 Mal das Wörtchen „neu“ gefunden.
„Was für eine Show“
Die meisten Abgeordneten erkannten jedoch schnell, dass sie nicht so recht gebraucht wurden für den Fortgang der Geschichte, so nutzten sie die Zeit für Souvenir-Schnappschüsse vor der Großen Halle des Volkes; die Delegation aus Zhejiang hatte ihren Tagungsraum fix in einen Karaoke-Salon verwandelt. Vorsänger Zhang Dejiang begeisterte seine Genossen mit einem Solo aus einer Bürgerkriegsoper, sein Sprecher meinte hernach: „Wir haben sehr viele Talente in unserer Gruppe.“
Stets bekannten die Delegierten, sie seien „sehr aufgeregt“ angesichts des historischen Kongresses. „Was für eine Show“, sagt ein Pekinger Geschäftsmann vor einem TV-Schirm in der Innenstadt. „Das ist bei denen keine Erregung, die aus dem Herzen kommt–die wirken eher so fickrig, als hätten sie gerade zehn Tassen Kaffee getrunken.“ Dann fragt er, ob uns aufgefallen sei, dass Presse und Fernsehen seit Beginn des Parteitags ihren Bildern mehr rote Farbe beimischen würden–auch da, wo eigentlich gar kein Rot auftaucht. Nein, bekennen wir, und vergessen die Bemerkung, bis am gleichen Abend ein deutscher Freund sagt, wir hätten doch sicher bemerkt, dass Jiang Zemin sich die Haare gefärbt habe. Nein, nicht schwarz wie sonst üblich unter Chinas Politgreisen – sondern eindeutig rötlich. Rotstich in Peking?
Wenn es denn stimmte, vielleicht war es ja eine Idee des scheidenden Vorsitzenden Jiang Zemin, mit der dieser seinen Verrat an den alten Ideen übertünchen wollte. Nie nämlich war die KP weniger rot als heute. Und das ist zu einem Gutteil Jiang zu verdanken, der mit seiner Theorie der Drei Vertretungen die Partei nun erstmals auch Privatunternehmern öffnete. Kapitalisten. Ausbeutern. Wer hätte das gedacht, 1989, als kurz nach dem Massaker vom Platz des Himmlischen Friedens Jiang Zemin zum Generalsekretär bestellt wurde? Keiner der Beobachter sagte ihm eine lange Karriere voraus, alle hielten sie ihn für zu blass, schwach und langweilig. Und dann wurden es 13 Jahre mit Jiang als Kern eines sich stets zusammenraufenden Führungskollektivs. Jahre, in denen China sich der Welt öffnete und seine Wirtschaft reformierte wie nie zuvor. In denen es vom Paria der Weltgemeinschaft aufstieg zu einem von den USA umworbenen Partner. Unter Jiang trat China der Welthandelsorganisation bei, seine Regierung holte die Olympischen Spiele 2008 ins Land. Und alles, was er tat, tat er immer auch, um die absolute Herrschaft der KP zu sichern: Wenn es den Leuten materiell gut geht, so das Kalkül, halten sie still. Und wenn sie doch aufmuckten, dann schlug Jiang zu, wie in der harten, oft brutalen und tödlichen Kampagne gegen die Falun-Gong-Bewegung. Jiangs Vermächtnis an die neue Führung ist wachsender Wohlstand–und ein ebenso schnell wachsender Haufen von Problemen: wuchernde Korruption, Arbeitslosigkeit, eine große Kluft zwischen Arm und Reich.
Ist Hu der Herkules, den China braucht angesichts der Herausforderungen? In gewisser Weise geht es dem 1942 in Schanghai geborenen Hu Jintao jetzt ähnlich wie seinem Vorgänger Jiang Zemin damals: Kaum etwas ist über ihn bekannt, die Leute spekulieren, ob er eine ausreichende Machtbasis hat oder ob er nicht von einer grauen Eminenz manipuliert werden wird. „Die neue Führung wird noch mehr vom Konsens leben“, prophezeit der Pekinger Ökonom Hu Angang. „Das ist keine schlechte Sache. Immerhin hört die Führung nun mehr und mehr auch auf den Rat von Experten wie uns.“ Deng Xiaoping persönlich hatte Hu Jintao 1992 zum künftigen Führer bestimmt. Ausländer, die ihn kennen gelernt haben, zeigen sich angetan von ihm. „Hut ab!“, sagt ein europäischer Diplomat: „Wie der mit Leuten umgeht! Er ist ein Teamarbeiter – und macht trotzdem klar, dass er der Wolf ist.“
Mit den anderen Kadern der nun an die Macht gekommenen „vierten Führungsgeneration“ (nach Mao Zedong, Deng Xiaoping und Jiang Zemin) hat Hu Jintao eine prägende Erfahrung gemein: die Kulturrevolution (1966-76), während der viele von ihnen für Jahre ins Hinterland verbannt wurden, wo sie Schweine hüten und der Wüste mit bloßer Hand Ackerland abringen durften. Hu wurde 1968 in die bitterarme Westprovinz Gansu geschickt. Manche glauben, diese Erfahrung habe den gelernten Wasseringenieur Hu zum Pragmatiker gemacht. Auf jeden Fall hat sie ihn einiges an Überlebenstechnik gelehrt. Vor allem an einen chinesischen Spruch hat er sich stets gehalten: Streck nie den Kopf heraus –sonst wird er abgeschlagen. Hu war immer der Klassenbeste: 1982 der jüngste Chef der kommunistischen Jugend, 1985 der jüngste Parteichef der Provinz Guizhou, 1988 der jüngste Parteisekretärs Tibets.
Schwarzer Fleck in Tibet
Hu hat es sehr gut verstanden, nie mit eigenen Vorstößen oder Ideen auf sich aufmerksam zu machen, was seinem kometenhaften Aufstieg in der Partei wahrscheinlich nur hilfreich war, ihn heute aber noch zu einem Rätsel für Ausländer wie einfache Chinesen gleichermaßen macht. Manche erhoffen sich den Liberalen, andere vermuten in ihm den Hardliner alter Schule und verweisen auf den schwärzesten Fleck seiner Laufbahn: Im März 1989, als Hu Parteisekretär von Tibet war, brachen in Lhasa Unruhen aus. Hu erteilte Schießbefehl, zwischen 70 und mehreren Hundert Tibetern wurden erschossen, dann ließ Hu das Kriegsrecht ausrufen. Einige Beobachter meinen, Hu habe aus diesem Vorfall gelernt.
Wer weiß. Die Welt wird wahrscheinlich noch eine Weile warten müssen, bis die Konturen des Neuen sichtbar werden. Die offizielle Biografie verrät, dass Hu „gelegentlich auf Parties alleine tanzte“–mit solchen Solos wird Hu sich erst einmal zurückhalten. Das neue Politbüro ist voll mit Parteigängern von Jiang Zemin, und der alte Jiang selbst hat sich erneut zum Vorsitzenden der Zentralen Militärkommission wählen lassen, was ihn zum Oberbefehlshaber der Armee macht. Jiang will offenbar Deng Xiaoping nacheifern, der vor seinem Tode nur noch Vorsitzender von Chinas Bridge-Verband war – und dennoch alle Fäden in der Hand hielt.
Alles falsch in China? Der Kommunismus jedenfalls ist heute so wenig echt wie der Rücktritt des stärksten Mannes. Ein Land, viele Wahrheiten.
Beijing – Historischer Moment für das größte Volk der Erde – Chinas KP nimmt Abschied vom Kommunismus. Im Gänsemarsch betraten sie die große Bühne – warum es noch dauern kann, bis der neue Generalsekretär und seine Mitstreiter Konturen zeigen
Ein China, viele Welten. Im Norden von Peking, in einer umgebauten Fabrikhalle, spielt die Band „Stimmensplitter“. Der Yan-Club ist fast leer, knapp 20 Besucher verlieren sich in kargem Betonschick. In Hamburg, Zürich, London sehen Clubs nicht anders aus. „Wir durften keine Werbung machen“, sagt die Managerin, „die Polizei hat gesagt, solange die Partei tagt, wollen sie keine Unordnung. Parties mit mehr als 100 Leuten sind verboten“. Der Band ist’s egal, sie setzt an zu recht düsteren Gitarrenriffs. „Kapitulation“ ist ihr erster Song: über die Kompromisse im Leben, sagt der Sänger. Den Zuhörern gefällt’s, sie applaudieren für fünfzig. Es folgen die Lieder „Falsche Rebellion“ und „Falsche Stille“. Alles falsch in diesem Land heute, sagt einer im Publikum: „Nur eines ist hier noch echt – Leute betrügen, das ist echt.“
Andernorts, im Zentrum Pekings, im Herzen des Reiches spielt die Partei. Dass es so etwas noch gibt: Feierliche Enthüllung der neuen Machthaber in der Großen Halle des Volkes. Es ist ein wenig wie das Warten auf den weißen Rauch in den Kaminen des Vatikans bei der Papstwahl. Hunderte von Journalisten starren ungeduldig ein Wandgemälde an, auf dem sich die Große Mauer durch den Raum windet. Die Phalanx der Fernsehkameras schwenkt wie bei einem Tennisspiel mal nach links, mal nach rechts, je nachdem, wo gerade ein Saaldiener aus Versehen raschelt. Hinter einem der Wandschirme an den beiden Seiten des Raumes müssen sie nämlich hervorkommen: die neuen Führer des größten Volkes der Erde, die Befehlshaber über Chinas Atomwaffen, die neuen Herren über das im Moment wohl verwirrendste und widersprüchlichste Land der Welt.
Neunzig Mal neu
Ein Land, dessen Wirtschaft um weitere acht Prozent wachsen wird in diesem Jahr, in dem es längst mehr Mobiltelefone gibt als irgendwo anders auf der Erde.
Gleichzeitig ein Land, das von einer Partei noch für ihr Eigentum gehalten wird. Ein Land, dessen Diktatoren ihre byzantinischen Rituale der Macht weiter so innig pflegen, als befänden sie sich mit der KP noch immer in Untergrund und Bürgerkrieg. Chinas Kommunisten scheuen das Licht. Hier in Peking lässt sich noch herrlich Teesatz lesen. Der alte Staats- und Parteichef Jiang Zemin geht, haben die Auguren prophezeit in diesem Sommer. Jiang bleibt, sagten dieselben Leute ein wenig später. Vielleicht!, meldeten sie kurz darauf. Jiang hat ihnen jetzt einen Gefallen getan: Er geht, aber nur halb, da dürfen sich alle im Recht fühlen.
Wie eh und je wurde die neue Führung unter höchster Geheimhaltung ausgekungelt: Längst standen sie fest, die neuen Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Politbüros. Aber erst an diesem Freitag soll der Welt die Gnade der Offenbarung zuteil werden. Und darum sitzen sie hier, ausländische und chinesische Reporter und recken gespannt die Hälse. Wenn die Türe aufgeht, werden sie hereinmarschieren, die neuen Herrscher, exakt in der Reihenfolge ihres Platzes in der Hierarchie. „Was passiert eigentlich, wenn einer stolpert und nach vorne fällt?“, fragt der Kollege von Le Temps. Nichts passiert.
Eine Türe geht auf, die rechte, die Kameras reißen herum–und es erscheint hinter dem Schirm der neue Generalsekretär der KP Chinas: Hu Jintao, der 59-Jährige, auf den alle getippt hatten. Dunkelblauer Anzug, rote Krawatte. Reporter greifen zum Handy: „Hu Jintao!“ zischen sie hinein. Hinter Hu marschieren noch acht weitere dunkelblaue Anzüge und rote Krawatten heran. Wie zum Vorsingen bestellte Konfirmanden stehen sie schließlich da, einige fühlen sich sichtlich unwohl. Nur der Mann in der Mitte, die Nummer fünf, grinst, scheint fast zu platzen vor Vergnügen. Die Beobachter notieren es eifrig: Aha!, Zeng Qinghong grinst. Zeng ist ein enger Vertrauter des scheidenden Jiang Zemin, was mag seine gute Laune bedeuten? Die Neun winken. Irgendwie hatten wir uns auf einen historischen Moment eingestellt: Der erste ordentliche Machtwechsel in der Geschichte der Volksrepublik, die Wiedergeburt der KP als Kapitalistenfreundin. Dann spricht Hu Jintao. Dürfen historische Momente so gähnend langweilig sein? Dürfen sie so sehr an die Vergangenheit erinnern? Der Mann sei brillant, behaupten einige. Er weiß das hervorragend zu verstecken.
Ein China, viele Zeiten. In den Städten hat längst der Kapitalismus Fuß gefasst. Teenager treffen sich zum Skateboardfahren, Yuppies in der Techno- Disco, Neureiche zum Golfen. Angestellte kaufen sich ein Appartement, leitende Beamte den Kleinwagen, Jungunternehmer mieten sich in glitzernde Bürotürme ein. Und als am Donnerstag auf dem Parteitag die Abschiedsreden verlesen wurden, da verzichtete selbst das Staatsfernsehen auf Direktübertragung und schaltete lieber live zu den Börsen nach Schanghai und Shenzhen. Wer aber die Schwelle zur Großen Halle des Volkes übertritt, der fühlt sich, als verlasse er dieses Jahrhundert. Welche Ironie, dass die Partei für ihren Kongress das Schlagwort „Wir müssen mit der Zeit Schritt halten“ ausgegeben hatte–sie tat alles, um dieses Vorhaben auf der Stelle zu konterkarieren. Totenstille herrschte, wo der Ort für Debatten gewesen wäre. Abstimmungen endeten mit 100 Prozent Ja-Stimmen.
Einmal mehr regnete es Propaganda-Phrasen und Jubelreden aus dem Munde von Delegierten, denen die Reporter des Staatsfernsehens die Mikrofone unters Kinn hielten, als wären es Pistolen. Dissens gab es über Jiang Zemins Theorie der „Drei Vertretungen“: Während die einen sie als „tiefschürfend“ bezeichneten, empfanden sie die anderen vielmehr als „scharfsinnig“. Eine Frau Doktor Gao aus Jiangxi verkündete, sie werde sofort ihr Krebs-Krankenhaus, der neuen Philosophie folgend, umorganisieren. Der Abgeordnete Zhang aus Qinghai meldete aufgeregt, er habe entdeckt, wie viel Innovativkraft exakt in der Abschiedsrede von Jiang Zemin stecke: Zhang hatte nachgezählt und genau 90 Mal das Wörtchen „neu“ gefunden.
„Was für eine Show“
Die meisten Abgeordneten erkannten jedoch schnell, dass sie nicht so recht gebraucht wurden für den Fortgang der Geschichte, so nutzten sie die Zeit für Souvenir-Schnappschüsse vor der Großen Halle des Volkes; die Delegation aus Zhejiang hatte ihren Tagungsraum fix in einen Karaoke-Salon verwandelt. Vorsänger Zhang Dejiang begeisterte seine Genossen mit einem Solo aus einer Bürgerkriegsoper, sein Sprecher meinte hernach: „Wir haben sehr viele Talente in unserer Gruppe.“
Stets bekannten die Delegierten, sie seien „sehr aufgeregt“ angesichts des historischen Kongresses. „Was für eine Show“, sagt ein Pekinger Geschäftsmann vor einem TV-Schirm in der Innenstadt. „Das ist bei denen keine Erregung, die aus dem Herzen kommt–die wirken eher so fickrig, als hätten sie gerade zehn Tassen Kaffee getrunken.“ Dann fragt er, ob uns aufgefallen sei, dass Presse und Fernsehen seit Beginn des Parteitags ihren Bildern mehr rote Farbe beimischen würden–auch da, wo eigentlich gar kein Rot auftaucht. Nein, bekennen wir, und vergessen die Bemerkung, bis am gleichen Abend ein deutscher Freund sagt, wir hätten doch sicher bemerkt, dass Jiang Zemin sich die Haare gefärbt habe. Nein, nicht schwarz wie sonst üblich unter Chinas Politgreisen – sondern eindeutig rötlich. Rotstich in Peking?
Wenn es denn stimmte, vielleicht war es ja eine Idee des scheidenden Vorsitzenden Jiang Zemin, mit der dieser seinen Verrat an den alten Ideen übertünchen wollte. Nie nämlich war die KP weniger rot als heute. Und das ist zu einem Gutteil Jiang zu verdanken, der mit seiner Theorie der Drei Vertretungen die Partei nun erstmals auch Privatunternehmern öffnete. Kapitalisten. Ausbeutern. Wer hätte das gedacht, 1989, als kurz nach dem Massaker vom Platz des Himmlischen Friedens Jiang Zemin zum Generalsekretär bestellt wurde? Keiner der Beobachter sagte ihm eine lange Karriere voraus, alle hielten sie ihn für zu blass, schwach und langweilig. Und dann wurden es 13 Jahre mit Jiang als Kern eines sich stets zusammenraufenden Führungskollektivs. Jahre, in denen China sich der Welt öffnete und seine Wirtschaft reformierte wie nie zuvor. In denen es vom Paria der Weltgemeinschaft aufstieg zu einem von den USA umworbenen Partner. Unter Jiang trat China der Welthandelsorganisation bei, seine Regierung holte die Olympischen Spiele 2008 ins Land. Und alles, was er tat, tat er immer auch, um die absolute Herrschaft der KP zu sichern: Wenn es den Leuten materiell gut geht, so das Kalkül, halten sie still. Und wenn sie doch aufmuckten, dann schlug Jiang zu, wie in der harten, oft brutalen und tödlichen Kampagne gegen die Falun-Gong-Bewegung. Jiangs Vermächtnis an die neue Führung ist wachsender Wohlstand–und ein ebenso schnell wachsender Haufen von Problemen: wuchernde Korruption, Arbeitslosigkeit, eine große Kluft zwischen Arm und Reich.
Ist Hu der Herkules, den China braucht angesichts der Herausforderungen? In gewisser Weise geht es dem 1942 in Schanghai geborenen Hu Jintao jetzt ähnlich wie seinem Vorgänger Jiang Zemin damals: Kaum etwas ist über ihn bekannt, die Leute spekulieren, ob er eine ausreichende Machtbasis hat oder ob er nicht von einer grauen Eminenz manipuliert werden wird. „Die neue Führung wird noch mehr vom Konsens leben“, prophezeit der Pekinger Ökonom Hu Angang. „Das ist keine schlechte Sache. Immerhin hört die Führung nun mehr und mehr auch auf den Rat von Experten wie uns.“ Deng Xiaoping persönlich hatte Hu Jintao 1992 zum künftigen Führer bestimmt. Ausländer, die ihn kennen gelernt haben, zeigen sich angetan von ihm. „Hut ab!“, sagt ein europäischer Diplomat: „Wie der mit Leuten umgeht! Er ist ein Teamarbeiter – und macht trotzdem klar, dass er der Wolf ist.“
Mit den anderen Kadern der nun an die Macht gekommenen „vierten Führungsgeneration“ (nach Mao Zedong, Deng Xiaoping und Jiang Zemin) hat Hu Jintao eine prägende Erfahrung gemein: die Kulturrevolution (1966-76), während der viele von ihnen für Jahre ins Hinterland verbannt wurden, wo sie Schweine hüten und der Wüste mit bloßer Hand Ackerland abringen durften. Hu wurde 1968 in die bitterarme Westprovinz Gansu geschickt. Manche glauben, diese Erfahrung habe den gelernten Wasseringenieur Hu zum Pragmatiker gemacht. Auf jeden Fall hat sie ihn einiges an Überlebenstechnik gelehrt. Vor allem an einen chinesischen Spruch hat er sich stets gehalten: Streck nie den Kopf heraus –sonst wird er abgeschlagen. Hu war immer der Klassenbeste: 1982 der jüngste Chef der kommunistischen Jugend, 1985 der jüngste Parteichef der Provinz Guizhou, 1988 der jüngste Parteisekretärs Tibets.
Schwarzer Fleck in Tibet
Hu hat es sehr gut verstanden, nie mit eigenen Vorstößen oder Ideen auf sich aufmerksam zu machen, was seinem kometenhaften Aufstieg in der Partei wahrscheinlich nur hilfreich war, ihn heute aber noch zu einem Rätsel für Ausländer wie einfache Chinesen gleichermaßen macht. Manche erhoffen sich den Liberalen, andere vermuten in ihm den Hardliner alter Schule und verweisen auf den schwärzesten Fleck seiner Laufbahn: Im März 1989, als Hu Parteisekretär von Tibet war, brachen in Lhasa Unruhen aus. Hu erteilte Schießbefehl, zwischen 70 und mehreren Hundert Tibetern wurden erschossen, dann ließ Hu das Kriegsrecht ausrufen. Einige Beobachter meinen, Hu habe aus diesem Vorfall gelernt.
Wer weiß. Die Welt wird wahrscheinlich noch eine Weile warten müssen, bis die Konturen des Neuen sichtbar werden. Die offizielle Biografie verrät, dass Hu „gelegentlich auf Parties alleine tanzte“–mit solchen Solos wird Hu sich erst einmal zurückhalten. Das neue Politbüro ist voll mit Parteigängern von Jiang Zemin, und der alte Jiang selbst hat sich erneut zum Vorsitzenden der Zentralen Militärkommission wählen lassen, was ihn zum Oberbefehlshaber der Armee macht. Jiang will offenbar Deng Xiaoping nacheifern, der vor seinem Tode nur noch Vorsitzender von Chinas Bridge-Verband war – und dennoch alle Fäden in der Hand hielt.
Alles falsch in China? Der Kommunismus jedenfalls ist heute so wenig echt wie der Rücktritt des stärksten Mannes. Ein Land, viele Wahrheiten.
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