Tibet-Politik

Ein Aufstand der Geknechteten: Die Vorgeschichte des 10. März 1959

Von Tseten Samdup (langjähriger Presse: und Informationssekretär des Tibet-Büros London)
10. März 2004
Unmittelbar nach ihrer Machtübernahme im Jahre 1949 begann die Kommunistische Partei Chinas den Anspruch geltend zu machen, dass Tibet ein Teil des chinesischen Territoriums sei und dass das tibetische Volk nach "Befreiung" von den "imperialistischen Kräften" und vom "reaktionären Feudalregime in Lhasa" dürste. Bis Oktober 1950 war die "Volksbefreiungsarmee" bis zur Hauptstadt der tibetischen Provinz Kham, Chamdo, vorgedrungen, wo das Ostkommando der tibetischen Armee sein Hauptquartier hatte. Die Provinz wurde zerschlagen und der Gouverneur Ngawang Jigme Ngabo gefangengenommen. Auch in die nordöstliche Grenzprovinz Tibets, Amdo, fielen chinesische Truppen unbemerkt ein, wobei sie militärische Zusammenstöße, die internationale Aufmerksamkeit erregen könnten, vermieden. Der 15-jährige Dalai Lama, sein Gefolge und ausgewählte Regierungsbeamte verließen die Hauptstadt und bildeten in Yatung nahe der indischen Grenze eine provisorische Verwaltung.
Im Juli 1951 konnten offizielle Vertreter Chinas sie überreden, nach Lhasa (auf dem Foto der Potala-Palast) zurückzukehren. Am 9. September 1951 marschierte eine Vorhut der "Befreiungskräfte" in einer Stärke von 3000 Mann in die Hauptstadt ein. 1954 waren schon 222.000 Mann der "Volksbefreiungsarmee" in Tibet stationiert, und eine Hungersnot breitete sich aus, da das Landwirtschaftssystem des Landes über seine Möglichkeiten strapaziert wurde.

Nur scheinbare Autonomie
Im April 1956 setzten die Chinesen in Lhasa das Vorbereitungskomitee für die Autonome Region Tibet unter der Leitung Seiner Heiligkeit des Dalai Lama ein. Der nach außen hin demonstrierte Zweck dieses Komitees war die Modernisierung des Landes, tatsächlich war es aber nur ein willenloses Werkzeug zur Legitimierung der chinesischen Ansprüche. In den späteren fünfziger Jahren nahm die Politisierung in Lhasa immer mehr zu, es entstand ein gewaltfreier Widerstand, der von der Mimang Tsongdu, einer populären und spontanen Bürgergruppe organisiert wurde. Plakate, auf denen gegen die Besetzung des Landes protestiert wurde, tauchten auf. Steine und getrockneter Yak-Dung wurden gegen chinesische Straßenaufmärsche geschleudert. In dieser Zeit setzte die Pekinger Führung noch darauf, die Tibeter zu umwerben und nicht zu unterdrücken, und nur die extremeren Führer und Redner der Mimang Tsongdu mussten mit Verhaftung rechnen.
Im Februar 1956 brach in mehreren Gebieten Osttibets ein Aufstand aus, bei dem örtliche Guerillakräfte in den Provinzen Kham und Amdo den chinesischen Besatzungstruppen schwere Verluste zufügten. Chinesische Truppen (Foto) wurden von West- nach Osttibet verlegt, um die dortigen Kräfte auf 100.000 Mann aufzustocken und "mit den Aufständischen aufzuräumen". Versuche, die Khampas zu entwaffnen, lösten einen so erbitterten Widerstand aus, dass sich die Chinesen zu härteren Maßnahmen entschlossen. Die "Volksbefreiungsarmee" begann, Klöster in Osttibet zu bombardieren und zu plündern, sie ließ Adelige, höhere Mönche und Guerillaführer verhaften, öffentlich foltern und hinrichten – mit dem Ziel, den weit verbreiteten und heftigen Widerstand zu brechen. In Lhasa überwachten 30.000 Mann der Volksbefreiungsarmee die Stadt, als Flüchtlinge aus den Kampfgebieten in Kham und Amdo die Bevölkerung um rund 10.000 ansteigen ließen und am Stadtrand Lager errichteten.

Bedenkliches Gesprächsangebot
Im Dezember 1958 war die Situation auf das Äußerste gespannt. Das chinesische Militärkommando drohte für den Fall, dass die Unruhen nicht eingedämmt würden, Lhasa und den Palast des Dalai Lama zu bombardieren. Im Süden und Nordosten von Lhasa hatten 20.000 Guerillas und mehrere tausend Zivilpersonen den chinesischen Truppen Kämpfe geliefert. Am 1. März 1959 erhielt der Dalai Lama während seiner Vorbereitungen auf seine Abschlussprüfung als Meister der Metaphysik im Jokhang-Tempel Besuch von zwei rangniedrigen Offizieren der chinesischen Armee. Sie bedrängten ihn, einen Termin für den Besuch einer Theatervorstellung mit anschließendem Tee im Hauptquartier der chinesischen Armee in Lhasa zu bestätigen. Seine Heiligkeit antwortete, er werde einen Termin machen, sobald die Zeremonien abgeschlossen seien. Dieser Vorgang war aus zwei Gründen außergewöhnlich: zum ersten, weil die Einladung nicht, wie es sich gehörte, über den Kashag (das Kabinett der tibetischen Regierung) erfolgte, und zum zweiten, weil die Veranstaltung nicht wie üblich im Palast, sondern im militärischen Hauptquartier stattfinden sollte und der Dalai Lama aufgefordert wurde, allein zu kommen. Am 7. März rief der Dolmetscher von General Tang Kuansen, einem der drei Militärführer in Lhasa, den obersten Mönchsbeamten an und verlangte, den Termin zu nennen, an dem der Dalai Lama das Armeelager besuchen würde. Man einigte sich auf den 10. März.
8. März 1959, Tag der Frau. Vor der Patriotischen Frauenvereinigung hielt General Tang Kuansen eine Ansprache, in der er drohte, Klöster zu beschießen und zu zerstören, falls die Khampa-Guerillas sich nicht ergeben wollten. "Wir wussten, dass die einfachen Menschen in Lhasa in die offene Rebellion gegen die Chinesen getrieben wurden, obwohl sie mit bloßen Händen gegen MG-Schützen kämpfen müssten", schreibt Rinchen Dolma (Mary) Taring in ihrer Autobiographie "Eine Tochter Tibets".
Angst um den Dalai Lama
Am 9. März 1959 um acht Uhr morgens kamen zwei chinesische Offiziere in das Haus des Kommandanten der Leibwache des Dalai Lama und forderten ihn auf, zu Brigadier Fu im chinesischen Militärhauptquartier in Lhasa mitzukommen. Brigadier Fu teilte ihm mit, dass am nächsten Tag, wenn der Dalai Lama sich von seinem Sommerpalast Norbulingka, zwei Meilen außerhalb von Lhasa, in das Armeehauptquartier begeben werde, nicht die übliche Zeremonie stattfinden werde. Es dürfe ihn keine bewaffnete Leibwache begleiten und es dürften keine tibetischen Soldaten über die Steinbrücke – eine Wegmarke am Rande des weitläufigen Armeelagers – gehen. Traditionell wurde der Dalai Lama immer von 25 bewaffneten Leibwächtern begleitet, und ganz Lhasa stand am Weg, wann immer er erschien. Brigadier Fu sagte dem Kommandanten der Leibwache des Dalai Lama, tibetische Soldaten dürften unter keinen Umständen die Steinbrücke überqueren, und der gesamte Vorgang müsse streng geheimgehalten werden.
Das chinesische Lager war den Tibetern stets ein Dorn im Auge gewesen, und die Tatsache, dass der Dalai Lama es nun besuchen sollte, würde unter den Tibetern sicher noch größere Ängste auslösen. Die Einladung bewirkte, dass am 10. März 300.000 loyale Tibeter den Norbulingka-Palast umstellten und ein Menschenmeer zum Schutz ihres Yeshe Norbu (Kosename für den Dalai Lama mit der Bedeutung "Kostbares Juwel") bildeten. Sie befürchteten, dass er nach Peking entführt werden sollte, um dort an der bevorstehenden Chinesischen Nationalversammlung teilzunehmen. Diese Mobilisierung der Massen (auf dem Foto eine Versammlung vor dem Potala-Palast in Lhasa) zwang den Dalai Lama, die Einladung des Armeeführers abzusagen. Statt dessen wurde er nun als Gefangener des Gewissens gehalten. Am 12. März marschierten 5000 tibetische Frauen durch die Straßen von Lhasa. Sie trugen Spruchbänder, auf denen "Tibet den Tibetern" gefordert wurde, und riefen: "Ab heute ist Tibet unabhängig!" Sie richteten ein Hilfsersuchen an das indische Generalkonsulat in Lhasa. Mitglieder und Anhänger der Mimang Tsongdu hatten in den engen Straßen von Lhasa Barrikaden errichtet, während die chinesische Miliz auf den flachen Dächern in der Stadt Sandsackbefestigungen für Maschinengewehre in Stellung gebracht hatten. 3000 Tibeter in Lhasa bekundeten ihren Willen, sich den Rebellen im Bergring um das Tal anzuschließen.

Auf aussichtslosem Posten
Am 15. März verließen 3000 der Leibwächter des Dalai Lama Lhasa und bezogen Stellung an einem vorbereiteten Fluchtweg. Die Führer der Khampa-Rebellen besetzten strategisch wichtige Punkte mit ihren zuverlässigsten Leuten. Kämpfer der tibetischen Armee mischten sich unter die Zivilisten, um den gewählten Weg zu verschleiern Zu diesem Zeitpunkt waren die Tibeter den Chinesen zahlenmäßig im Verhältnis zwei zu 25 unterlegen. Etwa 30.000 bis 50.000 chinesische Soldaten brachten moderne Waffen in Stellung und umstellten die Stadt mit 17 schweren Kanonen. Während die Chinesen drehbare Haubitzen bemannten, brachten die Tibeter ihre Kanonen mit Maultieren in Stellung.
Am 16. März wurde schwere Artillerie der Chinesen in Reichweite von Lhasa und besonders in der Nähe des Norbulingka gebracht. Es liefen Gerüchte um, dass weitere chinesische Truppen aus China eingeflogen werden. Bei Anbruch der Nacht war man sich in Lhasa sicher, dass der Angriff auf den Palast des Dalai Lama unmittelbar bevorstand.
Am 17. März um vier Uhr nachmittags feuerten die Chinesen zwei Mörsergranaten auf den Norbulingka. Das gab dem Dalai Lama den letzten Anstoß zu dem Entschluss, seine Heimat zu verlassen. "Nun hatten die chinesischen Granatwerfer das Warnzeichen des Todes gegeben. Jeder Beamte innerhalb des Palastes, jedes noch so bescheidene Mitglied des großen Gefolges ringsum dachte jetzt nur an eines: Wie mein Leben geschützt werden konnte. Und das hieß, dass ich den Palast und die Stadt sofort verlassen musste", erinnert sich Seine Heiligkeit der 14. Dalai Lama in seiner Autobiographie "Mein Leben und mein Volk". "Und es war nicht sicher, ob es eine Möglichkeit zur Flucht überhaupt noch gab. Hatte nicht Ngabo uns versichert, dass es unmöglich sei? Und wenn ich aus Lhasa fliehen konnte, wohin sollte ich dann gehen? Wie und wo konnte ich ein Asyl finden? Alles war ungewiss. Nur eines nicht: die zwingende Sorge meines ganzen Volkes, mich in Sicherheit zu bringen, ehe die Orgie chinesischer Zerstörungswut, ehe das Massaker begann."
Flucht über den Himalaya
Am Abend des 17. März um zehn Uhr verließ der Dalai Lama, gekleidet in eine Soldatenuniform und mit einem Gewehr über der Schulter, den Norbulingka-Palast und machte sich auf den gefahrvollen Weg nach Indien in die Freiheit, den seine Mutter und seine ältere Schwester schon vor ihm gegangen waren.
Am 19. März spät abends brachen in Lhasa Kämpfe aus. Zwei Tage lang kämpfte der hoffnungslos unterlegene tibetische Widerstand Mann gegen Mann. Um zwei Uhr in der Frühe begannen die Chinesen mit der Beschießung des Norbulingka. 800 Granaten wurden am 21. März auf den Norbulingka gefeuert. Tausende von Männern, Frauen und Kindern, die rund um die Palastmauer kampierten, wurden abgeschlachtet und die Wohnungen von 300 Beamten innerhalb der Palastmauern wurden zerstört. Anschließend wurden 200 Angehörige der Leibwache des Dalai Lama entwaffnet und öffentlich durch MG-Feuer erschossen. Die größeren Klöster in Lhasa – Ganden, Sera und Drepung – wurden beschossen, die letzteren beiden irreparabel, und die Klosterschätze und wertvolle Schriften wurden zerstört. Tausende von Mönchen wurden entweder auf der Stelle getötet oder in die Stadt zu Zwangsarbeit verschleppt oder deportiert. Bei Razzien wurden die Bewohner aller Häuser, in denen Waffen gefunden wurden, nach draußen getrieben und an Ort und Stelle erschossen. In diesen Tagen wurden über 86.000 Tibeter in Zentraltibet von den Chinesen umgebracht.
Politisches Asyl in Indien
Der Dalai Lama und sein Gefolge überquerten am 31. März am Khenzimane-Pass die Grenze nach Indien. Am 3. April erklärte Pandit Nehru im indischen Parlament (Lok Sabha), dass die indische Regierung dem Dalai Lama Asyl gewährt habe. Es dauerte einige Tage, bis die Gruppe Tawang erreichte, das Hauptquartier der Grenzdivision West Kameng des Nordöstlichen Grenzabschnitts, heute Bezirk Tawang im Bundesstaat Arunachal Pradesh. Der Dalai Lama blieb vier Tage in Tawang und verbrachte dort dann weitere zehn Tage, um eine Ruhr-Erkrankung auszukurieren. In Bomdila wurde Seine Heiligkeit offiziell von einem Abgesandten der indischen Regierung empfangen, der ihm einen Willkommensgruß von Nehru (auf dem Foto rechts) überbrachte.
Am Morgen des 18. April 1959 brachen Seine Heiligkeit der Dalai Lama, seine Mutter, seine Schwester, sein Bruder, drei Minister und 80 weitere Tibeter nach Tezpur im indischen Bundesstaat Assam auf. Er wurde dort von offiziellen Vertretern Indiens und an die 200 Pressekorrespondenten begrüßt, die alle die "Story des Jahrhunderts" witterten. Dort gab Seine Heiligkeit die berühmte, als "Erklärung von Tezpur" bekannt gewordene Erklärung ab, in der er sich von dem im Mai 1951 in Peking unterzeichneten 17-Punkte-Abkommen distanzierte, das "durch Nötigung" zustandegekommen sei.

1 Laut Buch des Dalai Lama ("Mein Leben und mein Volk". Die Tragödie Tibets, München 1962, Taschenbuchausgabe: Knaur Taschenbuch 3698, o. J., S. 136) waren es 30.000, was auch wahrscheinlicher erscheint.

2 Dieselbe Quelle, S. 151f.

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