Tibet-Politik

Botschaft S. H. Dalai Lama zum 10. März 2002 anlässlich des 43. Jahrestages des Tibetischen Volksaufstandes

10. März 2002
Ich habe jedoch immer die Gegenwart und die Zukunft für wichtiger erachtet als die Vergangenheit.
Als Folge des 11. September ist die Welt im Moment durch das Problem des Terrorismus beunruhigt. International ist sich die Mehrheit der Regierungen einig, dass eine dringende Notwendigkeit für gemeinsame Bemühungen besteht, den Terrorismus zu bekämpfen, und es wurde eine Reihe von Maßnahmen ergriffen.
Leider fehlt den gegenwärtigen Maßnahmen eine langfristige und umfassende Perspektive, um die Wurzeln des Terrorismus zu beseitigen. Erforderlich ist eine gut durchdachte, langfristige Strategie, die weltweit eine politische Kultur der Gewaltlosigkeit und des Dialoges fördert. Die internationale Gemeinschaft muss die Verantwortung dafür übernehmen, gewaltfreie Bewegungen, die friedliche Veränderungen erreichen wollen, kräftig und effektiv zu unterstützen. Andernfalls wird es als Heuchelei angesehen werden, wenn diejenigen verdammt und bekämpft werden, die sich in Wut und Verzweiflung erhoben haben, aber diejenigen weiterhin ignoriert werden, die sich beharrlich für Selbstbeherrschung und einen Dialog als eine konstruktive Alternative zur Gewalt eingesetzt haben.
Wir müssen aus unseren Erfahrungen lernen. Im letzten Jahrhundert war die Kultur der Gewalt bei der Lösung von Konflikten der gravierendste Grund für menschliches Leiden. Daher müssen wir uns jetzt der Herausforderung stellen, dieses 21. Jahrhundert zu einem Jahrhundert des Dialogs zu machen, in dem Konflikte gewaltfrei gelöst werden.
In menschlichen Gesellschaften wird es immer verschiedene Meinungen und Interessen geben. Aber ist es heute auch Realität, dass wir alle voneinander abhängig sind und auf diesem kleinen Planeten miteinander existieren müssen. Aus diesem Grund ist der einzig sinnvolle und intelligente Weg, Interessenkonflikte zu lösen – sei es zwischen Individuen, Gemeinschaften oder Nationen -, der Dialog im Geiste des Verständnisses und der Versöhnung. Wir müssen diesen Geist der Gewaltfreiheit erforschen, ihn entwickeln und lehren und in diese Bemühungen genau soviel investieren wie in militärische Verteidigung.
Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen politisch angespannten Atmosphäre waren die Tibeter in Tibet im vergangenen Jahr weiterhin massiven Menschenrechtsverletzungen durch die chinesischen Behörden ausgesetzt, einschließlich der Verfolgung aus religiösen Gründen. Dies führte dazu, dass eine steigende Zahl von Tibetern ihr Leben riskierte, um Tibet zu verlassen und anderswo Zuflucht zu finden. Die Vertreibung Tausender tibetischer und chinesischer Mönche und Nonnen aus dem Tibetischen Buddhistischen Lehrinstitut in Serthar in Osttibet im letzten Sommer zeigte die Intensität und das Ausmaß der Repression in Tibet. Diese Verletzung von Rechten ist ein deutliches Beispiel, wie Tibeter ihres Rechts beraubt werden, ihre eigene Identität und Kultur zu leben und zu erhalten.
Ich bin davon überzeugt, dass viele Menschenrechtsverletzungen in Tibet das Resultat von Argwohn, Mangel an Vertrauen und echtem Verstehen der tibetischen Kultur und Religion sind. Ich habe in der Vergangenheit immer wieder gesagt, dass es ausgesprochen wichtig für die chinesische Führung ist, die tibetische buddhistische Kultur und Zivilisation besser und umfassender zu verstehen und zu achten. Ich stimme ganz mit Deng Xiaopings kluger Aussage überein, dass wir "die Wahrheit in den Tatsachen suchen" müssen. Deshalb müssen wir Tibeter den Fortschritt und die Verbesserungen akzeptieren, die Chinas Herrschaft über Tibet dem tibetischen Volk gebracht hat und diese anerkennen. Gleichzeitig müssen die chinesischen Behörden verstehen, dass die Tibeter während der letzten fünf Jahrzehnte gewaltige Leiden und Zerstörung erleben mussten. Der verstorbene Pantschen Lama erklärte in seiner letzten öffentlichen Ansprache in Shigatse am 24. Januar 1989, dass die chinesische Herrschaft in Tibet dem tibetischen Volk mehr Zerstörung als Vorteile gebracht hat.
Die buddhistische Kultur Tibets inspirierte die Tibeter mit Werten von Mitgefühl, Versöhnlichkeit, Geduld und Respekt gegenüber allen Lebensformen, die von praktischem Nutzen für das tägliche Leben sind, und folglich gibt es den Wunsch, diese Werte zu erhalten. Bedauerlicherweise sind unsere buddhistische Kultur und unsere Art zu leben vom völligen Untergang bedroht. Die Mehrzahl der chinesischen "Entwicklungspläne" in Tibet soll Tibet völlig in die chinesische Gesellschaft und Kultur assimilieren und die Tibeter demographisch überrennen, indem eine große Zahl von Chinesen in Tibet angesiedelt wird. Dies belegt unglücklicherweise, dass die chinesische Tibet-Politik weiterhin von "Ultralinken" in der chinesischen Regierung beherrscht wird, trotz grundlegender Änderungen der Politik der chinesischen Regierung und Partei in anderen Regionen der Volksrepublik China. Diese Politik passt nicht zu einer stolzen Nation und Kultur wie China und ist gegen den Geist des 21. Jahrhunderts.
Der heutige weltweite Trend geht zu Offenheit, Freiheit, Demokratie und Respekt der Menschenrechte. Ganz gleich, wie groß und mächtig China sein mag, es ist ein Teil dieser Welt. Früher oder später wird China diesem weltweiten Trend folgen müssen. In den kommenden Monaten und Jahren wird sich der Prozess der Veränderungen, der bereits in China stattfindet, beschleunigen. Als buddhistischer Mönch wünsche ich China, der Heimat von fast einem Viertel der gesamten Weltbevölkerung, friedliche Veränderungen. Chaos und Instabilität führen nur zu großem Blutvergießen und enormen Leiden für Millionen Menschen. Eine derartige Situation hätte ernsthafte Auswirkungen für den Frieden und die Stabilität der gesamten Welt. Und als menschliches Wesen ist es mein aufrichtiger Wunsch, dass sich unsere chinesischen Brüder und Schwestern an Freiheit, Demokratie, Wohlstand und Frieden erfreuen.
Ob die kommenden Veränderungen in China neues Leben und neue Hoffnung für Tibet bringen werden und ob China sich selbst als ein verlässliches, konstruktives, friedliches und führendes Mitglied der internationalen Gemeinschaft etablieren wird, hängt größtenteils davon ab, ob China sich weiterhin hauptsächlich auf Grund seiner geographischen Größe, Bevölkerungszahl, der militärischen und wirtschaftlichen Macht definiert oder ob es sich für universelle menschliche Werte und Prinzipen entscheidet und seine Stärke und Größe darüber definiert. Umgekehrt wird diese Entscheidung Chinas in starkem Maße durch die Haltung und die Politik der internationalen Gemeinschaft gegenüber China beeinflusst werden. Ich habe immer wieder betont, dass es notwendig ist, Peking in den Strom der weltweiten Demokratie zu bringen und mich gegen die Idee ausgesprochen, China zu isolieren und auszugrenzen. Dies zu versuchen wäre moralisch nicht korrekt und politisch undurchführbar. Stattdessen habe ich mich immer für eine Politik der Verantwortung und des grundsätzlichen Engagements mit der chinesischen Regierung ausgesprochen.
Meine aufrichtige Hoffnung ist, dass die chinesische Führung den Mut, die Weisheit und die Weitsicht hat, die Tibet-Frage durch Verhandlungen zu lösen. Dies wäre nicht nur hilfreich, um eine politische Atmosphäre zu schaffen, die einen sanften Übergang Chinas in eine neue Ära ermöglichen würde, sondern auch um das Bild Chinas in der gesamte Welt erheblich zu verbessern. Es hätte einen starken positiven Einfluss auf die Menschen in Taiwan, und es würde die sino-indischen Beziehungen sehr verbessern. Zeiten der Veränderung sind auch Zeiten der Möglichkeiten. Ich bin fest davon überzeugt, dass es eine Chance für den Dialog und Frieden gibt, weil es keine andere Chance für China und uns gibt. Die gegenwärtige Situation in Tibet ist nicht dazu angetan, die Leiden der Tibeter zu lindern, und sie bringt keine Stabilität und Einheit für die Volksrepublik China. Früher oder später wird die Führung in Peking diese Tatsachen akzeptieren müssen. Für meinen Teil bleibe ich bei meiner Bereitschaft zum Dialog. Sobald es ein positives Signal aus Peking gibt, sind meine ernannten Vertreter bereit, mit Repräsentanten der chinesischen Regierung zu sprechen, überall, jederzeit.
Meine Position betreffend Tibet ist eindeutig. Ich fordere keine Unabhängigkeit. Wie ich bereits viele Male gesagt habe, fordere ich für das tibetische Volk eine echte Selbstbestimmung, um seine Zivilisation und die einzigartige tibetische Kultur, Religion, Sprache und Lebensart zu erhalten und zu fördern. Dafür ist es wichtig, dass die Tibeter ihre inneren Angelegenheiten selbst bestimmen und über ihre soziale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung frei entscheiden können.
Im Exil setzen wir die Demokratisierung der tibetischen Politik fort. Im letzten März unterrichtete ich die gewählten Repräsentanten der Versammlung der Tibetischen Volksvertreter, dass die Exil-Tibeter den nächsten Kalon Tripa (Vorsitzenden des tibetischen Kabinetts) direkt wählen müssen. Demzufolge wurde letzten August zum ersten Mal in der tibetischen Geschichte Samdhong Rinpoche als neuer Kalon Tripa mit 84 Prozent aller abgegebenen Stimmen von den Exil-Tibertern direkt gewählt. Dies ist ein großer Schritt vorwärts im Wachsen und in der Entwicklung der Demokratie in unserer Gemeinschaft der Exil-Tibeter. Es ist meine Hoffnung, dass in Zukunft auch Tibet eine gewählte demokratische Regierung haben wird.
Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, den zahlreichen Einzelpersonen, einschließlich den Mitgliedern der Regierungen, Parlamente und Nicht-Regierungsorganisationen, zu danken, die unseren gewaltfreien Freiheitskampf weiter unterstützen. Es ist sehr ermutigend, dass Universitäten, Schulen, religiöse und soziale Gruppen, Künstler und Wirtschaftsvereinigungen ebenso wie Menschen vieler Lebensbereiche das Problem Tibets verstehen und nun ihre Solidarität mit unserer Sache ausdrücken. Auch haben wir herzliche und freundschaftliche Beziehungen mit chinesischen Buddhisten und anderen Chinesen, die im Ausland und auf Taiwan leben, aufgebaut. Die Sympathie und Unterstützung, die unserer Sache von einer wachsenden Anzahl gut informierter chinesischer Brüder und Schwester gezeigt wird, ist eine große Ermutigung für uns Tibeter.
Ich nutze diese Gelegenheit, den zahlreichen chinesischen Brüdern und Schwestern zu danken und für sie zu beten, die außerordentliche Opfer für Freiheit und Demokratie in China gebracht haben. Vor allem möchte ich im Namen der Tibeter unsere Dankbarkeit gegenüber den Menschen und der Regierung Indiens für ihre unübertroffene Großzügigkeit und ihre Unterstützung ausdrücken. Die wachsende internationale Unterstützung für Tibet zeigt die dem Menschen innewohnende Empathie und die Solidarität mit menschlichem Leiden sowie eine universelle Achtung der Wahrheit und Gerechtigkeit. Ich ersuche die Regierungen, Parlamente und unsere Freunde, ihre Unterstützung und ihre Bemühungen mit erneutem Engagement und Entschlossenheit fortzusetzen.
Schließlich ehre ich die tapferen Männer und Frauen Tibets, die ihr Leben für unsere Sache der Freiheit geopfert haben und noch opfern, und bete für ein frühes Ende des Leidens unseres Volkes.
Der Dalai Lama, 10. März 2002
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