Tibet-Politik
Drapchi-Gefängnis in Lhasa – Das unmenschliche Regiment von Kommandant Lu
Andreas Lorenz, Der Speigel
8. Oktober 2002
Beijing – Das Drapchi-Gefängnis in Lhasa gilt als hä rtester Knast in der autonomen chinesischen Republik Tibet. Hier führt Kommandant Lu Bo das Regiment über 900 Inhaftierte. In seinem Reich hinter Gittern ist er ein nahezu unumschränkter Herrscher, der dreijährige Haftstrafen nach Gutdünken um 16 Jahre verlängern kann.
"Lasst uns zusammen eine wunderschöne Zukunft schaffen", singt die Band "Neues Leben" – acht Männer mit kurzgeschorenen Haaren in blau-weißen Uniformen. Die beiden Polizisten zwischen ihnen beobachten jede Bewegung, an der Wand fordert eine Parole: "Auf eigenen Füßen stehen".
Der Auftritt der Häftlingsband gehört zu den beklemmenden Momenten an jenem Samstagnachmittag, an dem Tibets Behörden erstmals die Tore des berüchtigten Drapchi-Gefängnisses im Nordwesten von Lhasa für eine Gruppe von Journalisten öffnen. Schon als das schwarze Tor langsam aufrollt, beginnen die Musiker zu spielen – offenkundig, um die unheimliche Stille zu übertönen, die über der Anstalt liegt.
"Wir haben nichts zu verbergen. Die Kritik westlicher Menschenrechtler ist verfehlt", lautete die Botschaft der Regierung, die zuvor nur einigen Diplomaten und einer Uno-Delegation den Zutritt erlaubt hat.
Mit der streng organisierten Tour will sie den Vorwurf tibetischer Exilorganisationen entkräften, die von Folter, Schlägen, schlechter medizinischer Versorgung und unnatürlichen Todesfällen sprechen. Sie sei geprü gelt und gezwungen worden, den ganzen Tag bewegungslos in der Sonne zu stehen, berichtete eine ehemalige Gefangene.
Alles falsch, erklärt Kommandant Lu Bo, 45: "Die Lebensbedingungen in diesem Gefängnis sind besser als in manchen Landstrichen Tibets." Zum Beweis werden die Journalisten durch einige Trakte geschleust. In der Bibliothek liegen Harry Potter-Bücher und etliche Zeitschriften, darunter "Chinesische Luftwaffe", aus.
Gespräche mit Häftlingen sind nach den "Vorschriften unseres Landes" nicht gestattet, heißt es. In Drapchi sitzen derzeit rund 900 Gefangene. Sie seien alle Schwerverbrecher, darunter zum Tode Verurteilte, die zwei Jahre Bew ährungsfrist erhalten haben. Sie werden von 200 Wächtern bewacht, 70 Prozent davon sind Tibeter.
Rund hundert Häftlinge kommen jedes Jahr neu nach Drapchi, die gleiche Zahl wird entlassen. In den vergangenen Jahren sind 15 Gefangene "eines natürlichen Todes" gestorben, keiner davon saß aus politischen Gründen.
Lu, 45, ein kühler Beamter in schwarz-grauer Uniform mit schwarzer Tasche unter dem Arm, macht keinen Hehl daraus, dass auch politische Gefangene in den Zellen hocken. In seiner Sprache sind sie Menschen, "die unsere Staatssicherheit untergraben" haben. Darunter versteht er: "Spalterische Aktivitäten, um die Unabhängigkeit Tibets zu erzielen, und öffentliche Opposition gegen die Zentralregierung und die Führung der Kommunistischen Partei".
Aus drei Jahren Haft machte Lu kurzerhand 19 Jahre
Rund hundert Gefangene hätten sich dieses Verbrechens schuldig gemacht – die meisten von ihnen Mönche und Nonnen. Darunter ist die Nonne Ngawang Sangdrol, 25. Sie wurde im Dezember 1992 ins Drapchi-Gefängnis eingeliefert, nachdem sie in Lhasa wegen "Unterminierung der Staatssicherheit" zu drei Jahren verurteilt worden war.
Warum die junge Frau zehn Jahre, nachdem sie ihre Strafe verbüßt hat, immer noch hinter Gittern sitzt, begründet Kommandant Lu mit ihrer Widerspenstigkeit: Sie habe aufrührerische Slogans und unbotmäßige Lieder gesungen und eine Tonbandkassette nach außen geschmuggelt. In seiner Sprache klingt das so: "Sie beging auch im Gefängnis kriminelle und konterrevolutionäre Aktivitäten, die die Ordnung untergruben."
Deshalb habe die Gefängnisverwaltung ihre Haftstrafe drei Mal verlängert, wozu sie nach chinesischem Gesetz berechtigt ist. In den letzten zwei Jahren, berichtet Lu, habe die Nonne aber "Reue" gezeigt, weshalb ihre Strafe wieder um eineinhalb Jahre gekürzt worden sei. Lu nennt das Datum ihrer voraussichtlichen Freilassung: "3. November 2011. Also noch neun Jahre, vier Monate und 25 Tage."
Welche Verbrechen, fragen die Journalisten, kann man hinter Gefängnismauern begehen, die es rechtfertigen, eine dreijährige Haftstrafe ohne Gerichtsbeschluss um sage und schreibe 16 Jahre zu verlängern? Lu blättert in seinen Notizen: "Ihre Taten sollten nicht nur die Gefängnisordnung zerstören, sondern auch die Regierung stürzen." Im Übrigen sei Ngawang Sangdrol bei guter Gesundheit. Die Journalisten bekommen Ngawang Sangdrol nicht zu sehen. Dafür d ürfen sie rund hundert Gefangene beobachten, die – von zwei Polizisten bewacht – regungslos vor einem Fernseher hocken und einen amerikanischen Zeichentrickfilm anstarren, in dem ein kichernder Weihnachtsmann herumtobt. Keiner wagt einen Blick auf die Gäste.
Der Zellentrakt hinter türkisfarbenen Gittertoren ist blitzsauber. Polizisten salutieren, als die Journalisten eintreten. Die Häftlinge schlafen zu zwölf Mann in einer Zelle mit sechs blauen Doppelstockbetten. Am Holz kleben rote, orange oder gelbe Schilder mit Namen und Fotos der Gefangenen. In der Wand ist ein kleiner Schrank eingelassen. Die Decken sind militärisch präzise gefaltet, Schüsseln und Stäbchen im Flur fein säuberlich angeordnet.
Die Häftlinge sollen neue Menschen werden
Die zweistöckige Teppichfabrik der Häftlinge (über dem Tor steht auf chinesisch und englisch: "Trainingszentrum für Häftlinge") ist an diesem Tag leer: " Wochenende", erklärt ein Beamter. Die Arbeit soll dazu beitragen, den Charakter der Häftlinge zu reformieren, damit sie als "neue Menschen" in die Gesellschaft zurückkehren können.
Auch auf dem Basketballfeld und auf dem Hof mit dem Fahnenmast ist keine Seele zu erblicken. Die Mauer ist mit bunten Landschaftsmosaiken aus Kacheln geschmü ckt. Hinter einer weiteren Einfassung ist ein Innentrakt mit Wachturm und elektrisch geladenen Stacheldraht zu erkennen.
"Dürfen die Gefangenen nach ihrer Entlassung ein normales Leben führen?" fragen Journalisten während des Rundgangs die Polizisten, die den Tross wie Hirtenhunde umkreisen. Nonnen berichteten, sie hätten nicht in ihre Klöster zurückkehren dürfen. Die Beamten streiten dies ab: "Ex-Gefangene sind frei wie jeder andere Bürger."
Zwei Polizistinnen in tibetischer Tracht reichen nach dem Besuch das Gästebuch. Dort hat ein Mitglied einer früheren Delegation auf englisch geschrieben: " Zeigen Sie einen Gran Menschlichkeit."
Beijing – Das Drapchi-Gefängnis in Lhasa gilt als hä rtester Knast in der autonomen chinesischen Republik Tibet. Hier führt Kommandant Lu Bo das Regiment über 900 Inhaftierte. In seinem Reich hinter Gittern ist er ein nahezu unumschränkter Herrscher, der dreijährige Haftstrafen nach Gutdünken um 16 Jahre verlängern kann.
"Lasst uns zusammen eine wunderschöne Zukunft schaffen", singt die Band "Neues Leben" – acht Männer mit kurzgeschorenen Haaren in blau-weißen Uniformen. Die beiden Polizisten zwischen ihnen beobachten jede Bewegung, an der Wand fordert eine Parole: "Auf eigenen Füßen stehen".
Der Auftritt der Häftlingsband gehört zu den beklemmenden Momenten an jenem Samstagnachmittag, an dem Tibets Behörden erstmals die Tore des berüchtigten Drapchi-Gefängnisses im Nordwesten von Lhasa für eine Gruppe von Journalisten öffnen. Schon als das schwarze Tor langsam aufrollt, beginnen die Musiker zu spielen – offenkundig, um die unheimliche Stille zu übertönen, die über der Anstalt liegt.
"Wir haben nichts zu verbergen. Die Kritik westlicher Menschenrechtler ist verfehlt", lautete die Botschaft der Regierung, die zuvor nur einigen Diplomaten und einer Uno-Delegation den Zutritt erlaubt hat.
Mit der streng organisierten Tour will sie den Vorwurf tibetischer Exilorganisationen entkräften, die von Folter, Schlägen, schlechter medizinischer Versorgung und unnatürlichen Todesfällen sprechen. Sie sei geprü gelt und gezwungen worden, den ganzen Tag bewegungslos in der Sonne zu stehen, berichtete eine ehemalige Gefangene.
Alles falsch, erklärt Kommandant Lu Bo, 45: "Die Lebensbedingungen in diesem Gefängnis sind besser als in manchen Landstrichen Tibets." Zum Beweis werden die Journalisten durch einige Trakte geschleust. In der Bibliothek liegen Harry Potter-Bücher und etliche Zeitschriften, darunter "Chinesische Luftwaffe", aus.
Gespräche mit Häftlingen sind nach den "Vorschriften unseres Landes" nicht gestattet, heißt es. In Drapchi sitzen derzeit rund 900 Gefangene. Sie seien alle Schwerverbrecher, darunter zum Tode Verurteilte, die zwei Jahre Bew ährungsfrist erhalten haben. Sie werden von 200 Wächtern bewacht, 70 Prozent davon sind Tibeter.
Rund hundert Häftlinge kommen jedes Jahr neu nach Drapchi, die gleiche Zahl wird entlassen. In den vergangenen Jahren sind 15 Gefangene "eines natürlichen Todes" gestorben, keiner davon saß aus politischen Gründen.
Lu, 45, ein kühler Beamter in schwarz-grauer Uniform mit schwarzer Tasche unter dem Arm, macht keinen Hehl daraus, dass auch politische Gefangene in den Zellen hocken. In seiner Sprache sind sie Menschen, "die unsere Staatssicherheit untergraben" haben. Darunter versteht er: "Spalterische Aktivitäten, um die Unabhängigkeit Tibets zu erzielen, und öffentliche Opposition gegen die Zentralregierung und die Führung der Kommunistischen Partei".
Aus drei Jahren Haft machte Lu kurzerhand 19 Jahre
Rund hundert Gefangene hätten sich dieses Verbrechens schuldig gemacht – die meisten von ihnen Mönche und Nonnen. Darunter ist die Nonne Ngawang Sangdrol, 25. Sie wurde im Dezember 1992 ins Drapchi-Gefängnis eingeliefert, nachdem sie in Lhasa wegen "Unterminierung der Staatssicherheit" zu drei Jahren verurteilt worden war.
Warum die junge Frau zehn Jahre, nachdem sie ihre Strafe verbüßt hat, immer noch hinter Gittern sitzt, begründet Kommandant Lu mit ihrer Widerspenstigkeit: Sie habe aufrührerische Slogans und unbotmäßige Lieder gesungen und eine Tonbandkassette nach außen geschmuggelt. In seiner Sprache klingt das so: "Sie beging auch im Gefängnis kriminelle und konterrevolutionäre Aktivitäten, die die Ordnung untergruben."
Deshalb habe die Gefängnisverwaltung ihre Haftstrafe drei Mal verlängert, wozu sie nach chinesischem Gesetz berechtigt ist. In den letzten zwei Jahren, berichtet Lu, habe die Nonne aber "Reue" gezeigt, weshalb ihre Strafe wieder um eineinhalb Jahre gekürzt worden sei. Lu nennt das Datum ihrer voraussichtlichen Freilassung: "3. November 2011. Also noch neun Jahre, vier Monate und 25 Tage."
Welche Verbrechen, fragen die Journalisten, kann man hinter Gefängnismauern begehen, die es rechtfertigen, eine dreijährige Haftstrafe ohne Gerichtsbeschluss um sage und schreibe 16 Jahre zu verlängern? Lu blättert in seinen Notizen: "Ihre Taten sollten nicht nur die Gefängnisordnung zerstören, sondern auch die Regierung stürzen." Im Übrigen sei Ngawang Sangdrol bei guter Gesundheit. Die Journalisten bekommen Ngawang Sangdrol nicht zu sehen. Dafür d ürfen sie rund hundert Gefangene beobachten, die – von zwei Polizisten bewacht – regungslos vor einem Fernseher hocken und einen amerikanischen Zeichentrickfilm anstarren, in dem ein kichernder Weihnachtsmann herumtobt. Keiner wagt einen Blick auf die Gäste.
Der Zellentrakt hinter türkisfarbenen Gittertoren ist blitzsauber. Polizisten salutieren, als die Journalisten eintreten. Die Häftlinge schlafen zu zwölf Mann in einer Zelle mit sechs blauen Doppelstockbetten. Am Holz kleben rote, orange oder gelbe Schilder mit Namen und Fotos der Gefangenen. In der Wand ist ein kleiner Schrank eingelassen. Die Decken sind militärisch präzise gefaltet, Schüsseln und Stäbchen im Flur fein säuberlich angeordnet.
Die Häftlinge sollen neue Menschen werden
Die zweistöckige Teppichfabrik der Häftlinge (über dem Tor steht auf chinesisch und englisch: "Trainingszentrum für Häftlinge") ist an diesem Tag leer: " Wochenende", erklärt ein Beamter. Die Arbeit soll dazu beitragen, den Charakter der Häftlinge zu reformieren, damit sie als "neue Menschen" in die Gesellschaft zurückkehren können.
Auch auf dem Basketballfeld und auf dem Hof mit dem Fahnenmast ist keine Seele zu erblicken. Die Mauer ist mit bunten Landschaftsmosaiken aus Kacheln geschmü ckt. Hinter einer weiteren Einfassung ist ein Innentrakt mit Wachturm und elektrisch geladenen Stacheldraht zu erkennen.
"Dürfen die Gefangenen nach ihrer Entlassung ein normales Leben führen?" fragen Journalisten während des Rundgangs die Polizisten, die den Tross wie Hirtenhunde umkreisen. Nonnen berichteten, sie hätten nicht in ihre Klöster zurückkehren dürfen. Die Beamten streiten dies ab: "Ex-Gefangene sind frei wie jeder andere Bürger."
Zwei Polizistinnen in tibetischer Tracht reichen nach dem Besuch das Gästebuch. Dort hat ein Mitglied einer früheren Delegation auf englisch geschrieben: " Zeigen Sie einen Gran Menschlichkeit."
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