Tibet-Politik

Tibets Glücksspiel – Der Tibetan Youth Congress und die Politik der Gewaltlosigkeit des Dalai Lama

Jehangir Pocha, In These Times

2. Dezember 2003
Können die Gespräche des Dalai Lama mit China erfolgreich sein?
Sie hatten seit dem Morgengrauen auf ihn gewartet. Die Sonne durchtränkte schon den unebenen Bergpfad mit ihrem Licht. Doch als die Autokolonne des Dalai Lama vorbeifuhr, hinterließ die schnelle Vorbeifahrt viele enttäuscht zurück.
Beamte hatten darauf bestanden, dass er nicht anhalten würde. Dennoch ist es schwer, eine Enttäuschung durch einen Menschen zu akzeptieren, den viele als Gott betrachten.
Jetzt, wo der 68-jährige Dalai Lama mit der chinesischen Regierung in Gespräche über die Zukunft Tibets verwickelt ist, nimmt die bange Ahnung zu, dass er der Sache nicht gerecht werde.
Letzten September, nach intensiven Geheimverhandlungen, traf zum ersten Mal seit 1959 ein persönlicher Beauftragter des Dalai Lama mit der chinesischen Regierung in Peking zusammen. Ein zweites Treffen folgte im Mai dieses Jahres.
Viele der 110.000 tibetischen Flüchtlinge verstehen dies als einen Fortschritt in Richtung ihrer Heimkehr. Andere jedoch sind verärgert über die weitreichenden Zugeständnisse, die der Dalai Lama eingegangen ist, um überhaupt als Gesprächspartner akzeptiert zu werden.
Seine Heiligkeit, wie der Dalai Lama hier allgemein genannt wird, hat Tibets Forderung nach Unabhängigkeit von China zugunsten einer wahren Autonomie aufgegeben. Es gibt sogar Anzeichen, dass die Tibeter diese Autonomie für lediglich einen beschränkten Teil Tibets akzeptieren würden.
Lange bevor die Armee des kommunistischen Chinas in den frühen 50er Jahren nach Tibet einmarschiert ist, wurden ausgedehnte Gebiete des tibetischen Hoheitsgebiets von China in die Regionen Qinghai, Sichuan, Gansu und Yunnan einverleibt. Als der Dalai Lama 1959 nach Indien flüchtete, gewann China die Kontrolle über die übrigen Regionen Tibets und wandelte dieses Gebiet 1965 in eine Provinz, die „Autonome Region Tibet"(TAR), um.
Der Dalai Lama erhebt derzeit Anspruch auf alle traditionell tibetischen Gebiete, was sowohl die TAR als auch die Gebiete, die von China eingegliedert wurden, umfasst. Viele meinen jedoch, dass diese Forderung unrealistisch sei und er flexibel sein müsse.
In die Enge getriebene Hunde beißen
Jedoch sind längst nicht alle glücklich über die Zugeständnisse, die an China gemacht wurden.
“Die Unabhängigkeit Tibets kann nicht aufgegeben werden: Jeder, der das versucht, macht einen Fehler", sagt Kalsang Godrupka Phuntsok, der Vorsitzende des Tibetan Youth Congress (TYC). Mit 20.000 Mitgliedern ist der TYC die größte Nichtregierungsorganisation in der tibetischen Gemeinschaft. Der TYC bewertet die Politik des „Mittleren Weges" des Dalai Lama kritisch.
In den spartanisch eingerichteten Zentrale des TYC erklärt Phuntsok: „Die Verhandlungen bedeuten überhaupt nichts. Den Chinesen können wir nicht trauen. Sie spielen nur mit [dem Dalai Lama], gewinnen Zeit und warten auf seinen Tod."
Phuntsok meint, dass für die Tibeter die Zeit gekommen sei, der Gewaltlosigkeit zu entsagen und zu beginnen "gezielte Gewalt, die keine Opfer fordert," gegen China einzusetzen – beispielsweise könnten wirtschaftliche Objekte oder Zugbrücken angegriffen werden.
Die Studenten um ihn nicken und bestätigen, dass sie bereit sind, für ihre Sache zu sterben. Dhondup Dorjee, 24, erklärt weshalb: “Es liegt nicht daran, dass ich an Gewalt glaube", formuliert er scharf, "aber sogar ein Straßenköter wird dich beißen, wenn er in die Enge getrieben wird.‘
Nicht immer gewaltlos
Angesichts des tibetischen Kampfes, der durch das lächelnde gütige Gesicht des Dalai Lama verkörpert wird, mag eine derartige Stimmung den einen oder anderen überraschen. Nur wenige realisieren, dass die Tibeter in der Vergangenheit bereits versucht haben, die Chinesen mit Gewalt zu bekämpfen. Zwischen der Mitte der fünfziger Jahre und 1972 führten die Tibeter einen Untergrundkrieg gegen China aus Mustang in Nepal mit der Unterstützung des U.S.-amerikanischen Geheimdienstes, der CIA.
Die Militäroperation mit dem Codenamen ST CIRCUS war eines der langandauernsten Projekte der CIA.
Tausende tibetischer Guerillas wurden in einem Armeelager namens Dhurma, "der Garten", im Camp Hale in Colorado und auch in Spanien ausgebildet. Sie wurden anschließend durch Thailand nach Tibet geflogen, wo sie mit Fallschirmen absprangen oder sie wurden aus Nepal über Land nach Tibet geschmuggelt.
Präsident Nixon beendete ST CIRCUS, als er den diplomatischen Kontakt mit China wieder aufnahm. Die Akten der Militäroperation wurden niemals veröffentlicht.
Der zweiundfünfzigjährige Lhasang Tsering, ehemaliger Vorsitzender des TYC, war ein junger Kämpfer in der letzten Phase der Operation ST CIRCUS. Er ist der Meinung, dass es an der Zeit sei, das Kapitel wieder zu öffnen, denn das "Überleben der Tibeter ist zutiefst gefährdet. Die Hauptbedrohung", so Lhasang Tsering, „rührt von Chinas forcierter Umsiedlungspolitik chinesischer Siedler nach Tibet.“
Eine überwältigte Kultur
China überflutet Tibet mit Han Chinesen, um es vollständig in ‚das Mutterland’ einzugliedern. Für die Tibeter stellt dies die größte Bedrohung dar, die China ihrer Existenz entgegenbringt – Ihre Folgen sind sogar weitaus verheerender als der Tod einer Millionen Menschen durch die chinesische Besatzung, die Zerstörung von über 6.000 buddhistischen Klöstern, die Verhaftung und Folter tibetischer Mönche, die Abholzung tibetischer Wälder, die Stationierung nuklearer Waffen und die Abfalldeponien in Tibet.
Der vierundsechzigjährige Samdhong Rinpoche ist Mönch und Premierminister der tibetischen Exilregierung. Seiner Schätzung nach leben heute sieben Millionen Han Chinesen in Tibet, fast hundertmal so viele wie China offiziell eingesteht. Es gibt lediglich 2,3 Millionen Tibeter.
“In Städten wie Lhasa und Chengdu besteht die Bevölkerung zu 75% aus Han Chinesen", so Samdhong Rinpoche. „Möglicherweise werden wir uns [bald] in einer ähnlichen Situation wie die Mongolen befinden. Unsere Kultur und unser Erbe wird vollkommen verloren sein."
Tsering führt als Beweis für das Misslingen der Verhandlungen den Bau einer Eisenbahnstrecke nach Tibet an, der dazu verwendet wird, die Region mit Han Chinesen zu überschwemmen. Dies findet sogar während der Verhandlungen der Chinesen mit dem Dalai Lama statt.
Samdhong Rinpoche stimmt zu, dass die andauernde Einwanderung von Han Chinesen Tibet zerstören wird. Er meint jedoch, dass Gewalt die tibetische Kultur mit derselben Gewissheit zerstören könne.
“Unser Hauptziel ist es, unsere spirituellen und kulturellen Traditionen zu bewahren. Gewaltlosigkeit ist ein Teil dieser Anstrengung. Geben wir sie auf, können wir nicht länger beanspruchen, die tibetische Kultur zu schützen", fährt er fort.
Eine derartige Hochherzigkeit ist an Phuntsok verloren gegangen. Während er der spirituellen Führung des Dalai Lama und anderer Mönche wie Samdhong Rinpoche tiefen Respekt entgegenbringt, ist Phuntsok davon überzeugt, dass sie durch ihre moralische Überzeugung für eine politische Führungsrolle ungeeignet sind.
Ich möchte den Dalai Lama fragen: „ ‚Wenn Sie die tibetische Unabhängigkeit in einem Tag durch das Töten von hundert Chinesen erreichen könnten, würden Sie es tun?‘ Sollte er dies verneinen, kann er nicht als politisches Oberhaupt der Tibeter fungieren. In diesem Fall ist ihm seine Philosophie wichtiger. Mönche sind gute Leute, aber vielleicht sind sie zu gut für die grobe Politik, die uns vernichtet", meint er.
Die Tibeter sind sich bewusst, dass sie wie Bauern eines Schachspiels eingesetzt werden. In seinem Buch Freiheit im Exil schreibt der Dalai Lama, dass die CIA ST ZIRKUS nicht unterstützte, „weil ihr die tibetische Unabhängigkeit wichtig war, sondern als Teil ihrer weltweiten Bemühungen, alle kommunistischen Regierungen zu destabilisieren."
Indien zieht seine Unterstützung zurück
Kürzlich hat auch Indien die Tibeter aufgegeben, um seine eigenen Interessen zu verfolgen. Obwohl Indien ein sicherer Hafen für tibetische Flüchtlinge, die zu einem Großteil im süd-indischen Bundesstaat Karnataka leben, und Gastgeber die tibetischen Exilregierung in Dharamsala bleibt, hat sich Delhi vom Kampf der Tibeter distanziert, seit es engeren Kontakt mit China aufgenommen hat.
Als der indische Ministerpräsident Atal Vajpayee China im Juni diesen Jahres besuchte, ließ er die bisherige Haltung Indiens, dass „Tibet eine autonome Region Chinas" sei, fallen. Stattdessen erklärte Vajpayee, dass“ die Autonome Region Tibet Teil des Staatsgebiets der Volksrepublik China ist."
Durch die Anerkennung Chinas begrenzter Definition von Tibet und durch die Aussage, die TAR sei chinesisches Staatsgebiet und keine autonome Region, akzeptiert Indien tatsächlich die Eckpunkte der chinesischen Position in dieser Angelegenheit.
Am folgenden Tag äußerte China die de facto Anerkennung der indischen Souveränität über Sikkim, einem umstrittenen Staat im Himalaja, den Indien 1975 annektiert hat.
Ein Katz und Maus Spiel?
Mit einem Blick auf die Hauptstraße Dharamsalas, die von Touristen überfüllt ist, die begierig einen Geschmack der tibetischen Mystik erhaschen möchten und auf die Geschäfte, die mit Gebetsketten und heiligen Büchern für die Touristen überfüllt sind, meint Tsering, dass der Kampf nie einsamer gewesen sei.
“Ich habe es Seiner Heiligkeit gesagt", meint Tsering. „Ich habe es ihm vor 25 Jahren gesagt. Hör auf, darauf zu warten, dass die Welt uns rettet. Gib die Hoffnung auf, dass die Chinesen sich ändern. Ob die Katze nun weiß oder schwarz ist, sie wird die Maus in jedem Falle fressen. Um unsere Freiheit zu erlangen, müssen wir kämpfen, vielleicht auch sterben. Das ist unsere einzige Chance."
Tsering und Phuntsok räumen ein, dass ein Aufstand gegen China kaum eine Erfolgschance habe. Mit Blick auf Ost-Timor sagen sie jedoch, dass ein Aufstand von internen Streitigkeiten in China, sofern sie sichtbar werden, profitieren könne.
“Jose Ramos-Horta [,der derzeitige Außenminister von Ost-Timor,] und ich haben in Genf zusammengearbeitet", sagt Tsering. “Er sah es als gegeben an, dass wir vor ihm unsere Freiheit wiedererlangen würden. Doch dann brach Indonesien zusammen und sie ergriffen die Gelegenheit. China ist heute ein äußerst instabiles Land. Sollte es zu bröckeln beginnen, müssen wir bereit sein, die Gelegenheit zu ergreifen.
Der TYC hat wenig Kenntnis und noch weniger die Mittel, um diese Ideen zu verwirklichen. Es bleibt ein Joker in einem zunehmend komplizierten Gewebe politischer Kräfte. Phuntsok selbst wirft die Frage auf, inwieweit der TYC ein Hardliner ist, den der Dalai Lama verwendet, um ihn seiner milden Politik entgegenzusetzen.
Sollte dies zutreffen, ist die Nachricht, die der Dalai Lama den Chinesen senden möchte, klar: Wenn, ihr nicht mit mir als vernünftigen Menschen verhandeln wollt bevor ich sterbe, werdet ihr euch in einer Situation wieder finden, in der ihr mit diesen jungen Wilden zurechtkommen müsst.
Jehangir Pocha, geboren in Bombay, arbeitet als internationaler Journalist in Cambridge, Massachusetts. zurück zur Übersicht

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