Tibet-Politik

Zusammenfassung: Grenzüberschreitung, Chinas Eisenbahnstrecke nach Lhasa, Tibet
2. September 2003
Die 70seitige Studie "Crossing The Line: China´s Railway to Lhasa, Tibet" (September 2003) der International Campaign for Tibet (ICT) analysiert die wirtschaftlichen, militärischen, politischen und sozialen Auswirkungen des 1118 km langen Eisenbahnbaus von Gormo nach Lhasa. Erstmals veröffentlichte Satellitenbilder, Interviews mit Transportexperten des chinesischen Eisenbahnministeriums und Wirtschaftlichkeitsanalysen kommen zu dem Ergebnis, daß die Eisenbahn wirtschaftlich nicht sinnvoll ist. Sie wird aus militärischen und politischen Gründen gebaut, um die Kontrolle durch China in Tibet zu erhöhen.
Zusammenfassung
Die chinesische Regierung baut derzeit die erste Eisenbahnstrecke in Tibet, zwischen Gormo (Provinz Qinghai) und Lhasa (Autonome Region Tibet (TAR)). Um die westlichen Regionen zu entwickeln und sie in die nationalen Grenzen einzugliedern, hat sie für die chinesische Führung höchste Priorität. Nach ihrer Fertigstellung 2007 wird die „Qinghai-Tibet-Eisenbahn", wie sie von den Chinesen bezeichnet wird, Tibet erstmals mit Chinas ausgedehntem Schienennetz verbinden. Die Strecke führt durch eines der bedrohlichsten Höhenterrains der Welt und ist nicht nur für Beijings Bestreben von erheblicher Bedeutung, das Wirtschaftswachstum in dieser Region voranzutreiben, sondern besitzt für die Zentralregierung auch außerordentliche strategische und politische Signifikanz.
Geschichte
Im 20. Jahrhundert setzten die unterschiedlichen Herrschaftsregime Chinas die Eisenbahn gezielt ein, um die weitläufigen Territorien, die ihrer Kontrolle unterstanden, zu kolonisieren – dazu gehörten z.B. Ost-Turkistan (Xingjian) und die Innere Mongolei. Die Eisenbahn brachte einen Strom von Siedlern in die Regionen und bildete damit das Rückgrat für die politische und militärische Kontrolle. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts äußerte Sun Yat-sen, der Begründer der chinesichen Revolution, die Idee, Lhasa mit dem chinesischen Schienennetz zu verbinden. Der chinesischen Republik fehlte jedoch zu jener Zeit die Verfügungsgewalt über Tibet. Als Tibet 1949/50 von der Volksrepublik China (VRC) annektiert wurde, forderte die Führung der Kommunistischen Partei zunächst eine Eisenbahnlinie, um die Volksbefreiungsarmee und die chinesischen Siedler mit Vorräten zu versorgen. 1979 wurden Schienen von Xining nach Gormo in Ost-Tibet verlegt. Genau wie ihre kaiserlichen und republikanischen Vorgänger machte die Volksrepublik den Eisenbahnbau zum Schlüsselelement der territorialen Eingliederung.
Das Vordringen der Eisenbahnlinie von Gormo nach Zentraltibet bedeutet nun die Vervollständigung eines 1.998 Kilometer langen Schienenkorridors, der sich bis nach Xining, der Provinzhauptstadt von Qinghai, erstreckt – eine Route, die den chinesischen Planern seit Jahrzehnten vorschwebt.
Tibets Wirtschaftspolitik
Die Eisenbahnlinie von Gormo nach Lhasa ist ein Hauptinfrastrukturprojekt in Chinas zehntem Fünfjahresplan für wirtschaftliche Entwicklung (2001-2005). Es ist zugleich ein prestigeträchtiges Element der Großen Entwicklungskampagne für den Westen, die 1999 vom ehemaligen chinesischen Ministerpräsident Jiang Zemin ins Leben gerufen wurde, um bestehende ökonomische Reformen zu beschleunigen. Die Kampagne steht in engem Zusammenhang mit den politischen Zielen der Regierung. Offizielle Stellungnahmen haben die Notwendigkeit betont, "den Westen" zu entwickeln, um "die Einheit voranzutreiben" und die "Stabilität" sicherzustellen. Die Umsetzung dieser Richtlinien, von denen die Parteipolitik in Tibet bestimmt wird, wendet sich gegen kulturelle und religiöse Vielfalt und schränkt die Ausübung politischer Freiheiten ein. Seitdem die tibetische Verwaltung von dem chinesischen Herrschaftssystem hinweggefegt wurde, hat Beijings Doktrin dem tibetischen Volk das Recht auf eine unabhängige Wirtschaftspolitik verwehrt. Die Tibeter wurden an den Rand gedrängt und vom wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozess ihres eigenen Landes und der eigenen Volkswirtschaft ausgeschlossen. Entsprechend haben sie weder die Planung der Eisenbahnlinie angeregt noch haben sie am Planungsprozess teilgenommen.
Bevölkerungszustrom
Die Tibeter sind besonders über den wachsenden Zustrom chinesischer Einwanderer besorgt, den die Eröffnung der Eisenbahnlinie mit sich bringen wird. Die Verbesserung des überregionalen Zugangs zum tibetischen Hochplateau in Kombination mit weiteren von der Regierung geschaffenen Anreizen wird die Ausdehnung bestehender Siedlergemeinden noch weiter begünstigen und die Errichtung neuer Siedlungen vorantreiben. Die verkürzte Reisezeit, niedrigere Reisekosten und der enge Kontakt zum wachsenden chinesischen kulturellen und wirtschaftlichen Netzwerk werden den Zustrom chinesischer Siedler anregen. Der Zuwanderungsstrom wird für das Wohlergehen und die Kultur des tibetischen Volkes, sowie für die Aussicht auf echte politische Autonomie eine wesentliche Bedrohung darstellen.
Die Verwendung von Satellitenbildern
Chinas Entwicklungsstrategie hat für Gormo und Lhasa bereits einen fundamentalen Wandel mit sich gebracht. Die Analyse von Satellitenbildern, den ersten dieser Art außerhalb der VRC, enthüllte die erhebliche Ausdehnung urbaner Flächen und wesentliche Veränderungen in der Umwelt, die während der letzten drei Jahrzehnte stattgefunden haben. Die Bilder spiegeln die Zuwanderung chinesischer Siedler in diesen Gebieten wider. Die Öffnung der Eisenbahnlinie von Xining für zivile Passagiere lies den Zuwanderungsstrom in Gormo ansteigen.
Auswirkungen auf die Umwelt
Die wirtschaftliche Entwicklung und der anhaltende Zustrom von Einwanderern hat bereits in vielen Regionen Tibets zu Waldrodung, Versteppung, Bodenerosion und zu einem Verlust an biologischer Vielfalt geführt. Es bestehen ernsthafte Befürchtungen über die zu erwartenden Auswirkungen des Eisenbahnbaus und der Aktivitäten, die er in diesem hochgelegenen Ökosystem nach sich ziehen wird. Für zehn der weltweit größten Fluss-Systeme, die durch große Teile Asiens fließen, dient dieses Hochplateau als Wassereinzugsgebiet. Leitende chinesische Ingenieure und Beamte aus Chinas Eisenbahnministerium (MOR) haben bereits zugegeben, dass der Bau der Eisenbahnstrecke schädlichen Einfluss auf Tibets empfindliche Umwelt haben wird. Die Überflutung des Yangtse im Jahre 1998 resultierte aus der Waldrodung in Tibet und machte führende Beamte in Beijing auf die Bedeutung des tibetischen Ökosystems für die chinesische Umwelt aufmerksam. Dennoch nimmt der Umweltschutz weiterhin eine nachrangige Position hinter den strategischen und wirtschaftlichen Interessen der Partei ein.
Die anhaltende Aufrüstung des tibetischen Hochplateaus
Die Eisenbahn wird auch die zunehmende Militarisierung des tibetischen Hochplateaus vereinfachen. Die Qinghai Daily beschrieb die Eisenbahnstrecke als "politische Frontlinie" bei der "Festigung der südwestlichen Grenze des Mutterlandes". Die Bildung von Zugangsrouten nach China und von weiteren Verästelungen neben der Hauptstrecke würde die Ausdehnung der Militärstützpunkte in der gesamten Region und eine schnellere Mobilisierung der Belegschaft ermöglichen. Entlang der indischen Grenzregionen könnten Anschlusslinien oder Zufahrtsstraßen die Armee- und Luftstützpunkte hunderte von Kilometern abseits der Hauptroute beliefern. Die Eisenbahnlinie wird auch den Transport von Nuklearraketen, die China bereits in den nördlichen Ausläufern der tibetischen Hochebene unterhält, ermöglichen. Es ist wahrscheinlich, dass Fortschritte in Chinas Feststoffraketentechnologie es erlauben, die kürzlich entwickelten Eisenbahn-Raketen-Zünder, ähnlich der in der Ukraine gebauten SS-24s, einzusetzen. Falls sie verwendet würden, könnten sie entlang der Xining-Lhasa-Route verschoben und in den Tunneln des gesamten Bergterrains versteckt werden, abseits der dicht besiedelten Gebiete im Osten.
Finanzielle Rentabilität
Die Herausforderungen des Baus der Bahnlinie zwischen Lhasa und Gormo sind beachtlich. Die Strecke wird durch abgelegene Hochebenen mit niedrigen Temperaturen, Höhendruck und heftigen Erdbeben führen – alles Faktoren, die zu hohen Ausfallquoten für Verbrennungsmotoren und Maschinenanlagen und zu Gefahren für die menschliche Gesundheit führen können. Frostschäden und Erdrutsche bei Tauwetter werden die Stabilität des Schienenbettes beeinträchtigen. Einige chinesische Experten haben zugegeben, dass die Konstruktionsmethoden auf den langen von Dauerfrost betroffenen Abschnitten, in denen die Schienen verlegt werden, weitgehend experimentell sind. Vom finanziellen Standpunkt gesehen ergibt die relativ geringe Bevölkerungszahl entlang der Strecke keinen gewinnbringenden Markt, der groß genug wäre, um die Kosten des Eisenbahnprojekts in Höhe von 26,2 Milliarden Yuan (2,9 Milliarden Euro) aufzuwiegen.
Die Unterstützung des Projekts durch führende Politiker wie beispielsweise Jiang Zemin und dem ehemaligen Premierminister Zhu Rongji verdeutlichen, dass nicht einmal hochrangige Politiker gewillt zu sein scheinen, die politischen Konsequenzen der wachsenden Zweifel an der technischen Durchführbarkeit und der finanziellen Rentabilität zu tragen.
Zusammenfasseng der Schlussfolgerungen

  • Die Entscheidung, die Eisenbahnlinie zwischen Gormo und Lhasa zu bauen und zu betreiben, basiert in erster Linie auf langfristigen politischen und sicherheitspolitischen Aspekten, nicht aber auf wirtschaftlichen Überlegungen.
  • Weder aus dem Blickwinkel der finanziellen Rentabilität noch der sozialen Verantwortlichkeit rechtfertigen die wirtschaftlichen Bedingungen und die geringe Bevölkerung Tibets die veranschlagten 2,9 Milliarden Euro Konstruktionskosten. Die Ausgaben übersteigen den gesamten Gesundheits- und Ausbildungsetat, den Beijing seit 1952 für die Autonome Region Tibet ausgegeben hat.
  • In Kombination mit zahlreichen von der Regierung geschaffenen Anreizen wird das von der Eisenbahn generierte Wirtschaftswachstum und der erweiterte Zugang zum tibetischen Hochplateau den wachsenden Zustrom chinesischer Siedler vereinfachen. Dies wird zu einem merklichen demographischen Wandel, zu Umweltschäden und zu einem wachsenden Druck auf Tibets einzigartige Identität führen.
  • Trotz der Aussicht auf Wirtschaftswachstum in Tibet und auf bessere Möglichkeiten für einzelne Tibeter wird sich die Wertschöpfung voraussichtlich in städtischen Gebieten und in Zentren der Ressourcenverabreitung konzentrieren. Von diesen Zentren profitieren jedoch in erster Linie Nicht-Tibeter.
  • Das völlige Fehlen einer ernsthaften Beteiligung der tibetischen Bevölkerung am Entscheidungsprozess über den Bau der Eisenbahnlinie, eine Atmosphäre der Angst bezüglich abweichender Auffassungen, der vorwiegend militärische Gebrauch der Haupttransportadern und die Notwendigkeit, eine wachsende Zahl chinesischer Siedler zu versorgen, untersteichen, wie sehr der Eisenbahnbau den Interessen des tibetischen Volkes widerspricht.
  • Nach Ansicht der International Campaign for Tibet (ICT) geschieht der Bau dieser Eisenbahnlinie voreilig. Im Rahmen der derzeitigen Regierungspolitik ist anzunehmen, dass die negativen Auswirkungen auf die gesamte tibetische Bevölkerung die positiven Aspekte bei weitem übersteigen.

Zusammenfassung der Empfehlungen
FÜR DIE REGIERUNG DER VOLKSREPUBLIK CHINA:
Die folgenden Empfehlungen sollten von der chinesischen Regierung befolgt werden, um sicherzustellen, dass die Eisenbahnlinie zwischen Gormo und Lhasa dem tibetischen Volk einen Vorteil bringt, der nicht durch die voraussichtlichen negativen Folgen der Konstruktion der Eisenbahnlinie aufgewogen wird.

  1. Es sollten wesentliche Schritte unternommen werden, um den Zustrom von Nicht-Tibetern nach Tibet einzudämmen. Beispielsweise sollten Restriktionen für die Grenzüberschreitung nach Tibet eingeführt, die Regulierung der Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung verschärft, die finanziellen Anreize zurückgenommen und die Handels- und Eigentumsrechte reformiert werden.
  2. Die Wirtschaftspolitik muss dahingehend verändert werden, dass ihre Struktur langfristige Nettogewinne für das tibetische Volk erlaubt und die Tibeter wirtschaftlich unabhängig werden können. Reformen sollten unter anderem Veränderungen in der Subventions-, Besteuerungs- Finanzpolitik umfassen. Die Fiskalpolitik sollte mehr Raum für die Unterstützung von tibetischen Ausbildungs- und Trainingsprogrammen schaffen und die Gewinne aus dem Abbau natürlicher Ressourcen, der durch die Eisenbahnlinie ermöglicht wird, zum größten Teil für das Gemeinwohl in den Abbaugebieten verwenden.
  3. Die Menschenrechtslage muss wesentlich verbessert und ein größeres Maß an Transparenz sichergestellt werden, um den Tibetern Meinungsfreiheit und die uneingeschränkte Teilnahme an politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungsprozessen sowohl auf individueller Ebene als auch auf Gemeindeebene zu garantieren. Die chinesische Regierung sollte alle Informationen zum Eisenbahnbau öffentlich zugänglich machen, zum Einbringen von Vorschlägen ermutigen und das tibetische Volk dazu ermächtigen, den Bau und Betrieb der Eisenbahnlinie entweder zu unterbinden oder aber zu regulieren.
  4. Ökologische Auswirkungen sowohl des Eisenbahnbaus als auch des dadurch induzierten Bevölkerungswachstum und der zunehmenden Wirtschaftsaktivität wie beispielsweise des Rohstoffabbaus, müssen vollständig analysiert und in ihren Konsequenzen bewertet werden.
  5. Die Eisenbahnlinie darf nicht dazu genutzt werden, das tibetische Hochplateau weiter aufzurüsten – weder konventionell noch nuklear. Dies würde zu weiterer Unterdrückung und Demütigung des tibetischen Volkes führen und die Spannungen mit den Nachbarstaaten verstärken.

FÜR ALLE ÜBRIGEN REGIERUNGEN:
Bis die Regierung der Volksrepublik China Schritte unternimmt, um die oben genannten Empfehlungen wirkungsvoll umzusetzen, sollten die Regierungen von jeglicher Beteiligung am Bau und Betrieb der Eisenbahnstrecke zwischen Gormo und Lhasa abraten und auch selbst davon absehen. Entsprechend sollten sie technische Unterstützung unterbinden, hierfür notwendige Exportlizenzen verweigern und Richtlinien aufstellen, die sicherstellen, dass ihre Unterstützung für ökonomische Aktivitäten in Tibet sozial-ökonomisch verträglich und ethisch verantwortlich sind.
FÜR DIE REGIERUNG DER VEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA:
Zusätzlich zu den allgemeinen Hinweisen an alle Regierungen sollte die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika den Prinzipien des Tibetan Policy Acts 2002 für eine verantwortungsvolle Entwicklung nachkommen, wie sie im Abschnitt 616 des US Public Law 107-228 festgehalten sind. Dies bezieht sich sowohl auf die Handels- und Entwicklungsbehörde und die Export-Import-Bank, als auch auf die US-amerikanische Teilnahme an internationalen Finanzinstitutionen.
FÜR INTERNATIONALE FINANZINSTITUTIONEN UND ENTWICKLUNGSBEHÖRDEN:
Es sollte keine finanzielle oder technische Unterstützung bereitgestellt werden, die zum Bau oder zum Betrieb der Eisenbahnstrecke oder für damit in engem Zusammenhang stehende kommerzielle Aktivitäten verwendet werden.
FÜR UNTERNEHMEN:
Mit Unternehmen und Regierungsinstitutionen, die mit dem Eisenbahnbau beschäftigt sind, sollte weder eine Partnerschaft eingegangen noch ein Joint Venture eingegangen werden. Finanzierungsinstitutionen sollten Darlehen für Unternehmen oder Regierungsinstitutionen verweigern, solange nicht sichergestellt ist, dass diese Mittel nicht dem Bau oder Betrieb der Eisenbahnstrecke zufließen. zurück zur Übersicht

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