Foto: Olivier Adam

Die Nachfolge des 14. Dalai Lama birgt enormes Konfliktpotential. Die Politik sollte gegenüber Peking mit Nachdruck internationales Recht einfordern. Die Bundesregierung verhält sich halbherzig.​

Die China-Berichterstattung wird aktuell dominiert von der Lage in Xinjiang und den Entwicklungen in Hongkong. Offenbar unbemerkt ist jedoch Bewegung in eine ganz andere Frage gekommen, die ebenfalls für enormes Konfliktpotential sorgen wird: Wer bestimmt das nächste Oberhaupt der tibetischen Buddhisten, wer bestimmt den nächsten Dalai Lama?

Pekings Haltung ist unmissverständlich. Die Kommunistische Partei Chinas allein will die Wiedergeburt des nächsten Dalai Lama bestimmen. „Die Entscheidungsgewalt über die Reinkarnation des Dalai Lama, über das Ende oder die Weiterführung dieser Linie, liegt bei der Zentralregierung Chinas“, so 2015 der einflussreiche KP-Funktionär Zhu Weiqun. Was zunächst absurd klingt, ist bitterer Ernst der Kommunistischen Partei. Eine atheistische und anti-religiöse Partei will über die Wiedergeburt eines Bodhisattva, eines erleuchteten Wesens, das nach buddhistischer Auffassung aus Mitgefühl in die menschliche Existenz eintritt, entscheiden. Seit 2007 existieren chinesische Verordnungen und Gesetze, die diesen Anspruch untermauern sollen, und zwar gleich gegenüber allen Reinkarnationen des tibetischen Buddhismus.

Der mittlerweile 85-jährige Dalai Lama und Vertreter des tibetischen Buddhismus haben dies kategorisch und wiederholt zurückgewiesen. Im September 2011 erklärte der Dalai Lama: nur der Dalai Lama oder die Vertreter seiner Linie können die Entscheidung über seine Wiedergeburt treffen. Keine andere Person oder Gruppe, nicht China, nicht irgendeine Regierung.

UNO-Experten: Sorge über Einmischung Pekings

Gestützt wird die Position des Dalai Lama und der Schulen des tibetischen Buddhismus durch internationales Menschenrecht. So appellierten unlängst fünf UNO-Menschenrechtsexperten an die chinesische Regierung, „sicherzustellen, dass tibetische Buddhisten in der Lage sind, ihre Religion, Traditionen und Kulturen frei und ohne Einmischung zu praktizieren”, da die Religionsfreiheit das Recht der tibetischen Buddhisten einschließe, „ihre Geistlichen und religiösen Führer in Übereinstimmung mit ihren eigenen religiösen Traditionen und Praktiken zu bestimmen”. Sie unterstreichen damit Prinzipien, die aus UNO-Zivilpakt und UNO-Resolutionen abgeleitet werden.

Chinesische Sicherheitskräfte und tibetischer Pilger. Foto: Carlos Brum Melo

Wenn Peking einen eigenen Nachfolger des Dalai Lama bestimmt, ohne Rücksicht auf die Rechte tibetischer Buddhisten, wird dies wenig überraschend zu großer Empörung nicht nur im tibetischen Exil, sondern auch in Tibet selbst führen. Die Verehrung des Dalai Lama in Tibet ist anhaltend groß. So haben viele der Tibeter, die sich seit 2009 aus Protest gegen die staatliche Politik selbst angezündet haben, die Rückkehr des Dalai Lama gefordert. Die Gefahr einer Eskalation ist gegeben. Und sie steigt umso mehr, als die Kommunistische Partei glauben muss, sie könne ohne große Widerstände ihre Interessen umsetzen. Mit Verweis auf internationale Menschenrechtsprinzipien muss daher einer möglichen Zuspitzung des Konflikts entgegengewirkt werden. Peking hat sich in der Frage der Bestimmung des nächsten Dalai Lama nicht einzumischen.

Bundesregierung mit halbherziger Stellungnahme

Die Bundesregierung hat sich im Februar 2020 zur Sache geäußert. Auf eine schriftliche Frage der Bundestagsabgeordneten Margarete Bause (Bündnis 90/Die Grünen) hat sie folgendermaßen geantwortet:

„Die Bundesregierung vertritt die Auffassung, dass Religionsgemeinschaften ihre Angelegenheiten autonom regeln dürfen. Dies beinhaltet das Recht, ihre religiösen Würdenträger selbst zu bestimmen. Die Bundesregierung achtet den Dalai Lama als Oberhaupt des lamaistischen Buddhismus. Gleichzeitig betrachtet sie Tibet als Teil der Volksrepublik China.“

Die Antwort der Bundesregierung verweist auf das Recht einer Religionsgemeinschaft, seine Geistlichen selbst zu bestimmen – ein Standard internationalen Menschenrechts. Das ist zu begrüßen. Sie legt indes auch Schwächen offen.

Offenbar antizipieren die Verfasser bereits den Groll der chinesischen Regierung. Denn ungefragt äußert sich die Bundesregierung zur Statusfrage Tibets – Tibet als „Teil der Volksrepublik China“- , wozu sie sich offenbar durch die schlichte Erwähnung der Person des Dalai Lama genötigt sieht. Sie imitiert damit Reflexe der chinesischen Regierung, die dem Dalai Lama wahrheitswidrig unterstellt, er verfolge die Unabhängigkeit Tibets. Die Statusfrage Tibets hat überdies nichts mit der Nachfolge des Dalai Lama, einer Frage von freier Religionsausübung zu tun. Die Bundesregierung zeigt damit an, dass sie einer politischen Festlegung der chinesischen Regierung folgt, anstatt eine unabhängige, von eigenen Überzeugungen getragene und selbstbewusste Position zu vertreten.

Wenig Fingerspitzengefühl

Die Bundesregierung beweist überdies in ihrer Wortwahl wenig Fingerspitzengefühl für den tibetischen Buddhismus. Bei der Bezeichnung „lamaistischer Buddhismus“ handelt es sich um eine Fremdbezeichnung, die von tibetischen Buddhisten und dem Dalai Lama selbst abgelehnt wird. Das Wort „Lamaismus“ kommt in der tibetischen Sprache nicht vor. Während der Dalai Lama die Fremdbezeichnung mit Verweis auf Ursprung und Kern des tibetischen Buddhismus ablehnt, haftet dem Begriff „Lamaismus“ der Odem kultureller Abwertung an, zunächst durch Europäer, später durch Chinesen. Für die einen als ‚unechte‘ Spielart des Buddhismus, für die anderen als Etikett für Rückständigkeit. Die Bundesregierung sollte den Begriff „lamaistischer Buddhismus“ daher aus ihrem Vokabular streichen.

Wie es anders geht, zeigt die Antwort des EU-Außenbeauftragten Borell im Europaparlament auf eine Frage vom Juli dieses Jahres: „Die Wahl religiöser Führer sollte ohne Einmischung der Regierung und unter Achtung der religiösen Normen erfolgen. […]. Die neugestalteten chinesischen Religionsgesetze werfen in dieser Hinsicht ernsthafte Fragen auf, sodass es wichtig ist, ihre Umsetzung zu beobachten. Im Rahmen des Menschenrechtsdialogs EU-China hat der Europäische Auswärtige Dienst mehrmals den Standpunkt vertreten, dass China das Verfahren für die Nachfolge des Dalai Lama beachten muss. […] Der Hohe Vertreter/Vizepräsident Borell wird diese Angelegenheit weiterhin genau beobachten und ist entschlossen, diesen Standpunkt erforderlichenfalls erneut zu bekräftigen.“

Die Bundesregierung sollte sich dieser Position anschließen und dies öffentlich während der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands bekräftigen – ohne Reflexe der KP zu imitieren. Die Nachfolge des Dalai Lama ist über Tibet hinaus von Bedeutung, etwa für katholische Christen oder muslimischen Uiguren, die sich wie die Tibeter gegen die „Sinisierung“ ihrer Religion wehren. In Tibet wird sie Einfluss darauf haben, ob sich Tibeter endgültig verabschieden müssen von Kernbestandteilen ihrer Religion oder nicht.

Autor: Kai Müller, Geschäftsführer der International Campaign for Tibet

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