Massenproteste in Hongkong – Ergebnis repressiver Politik
Foto: Studio Incendo CC BY 2.0
Ausgerechnet im Jahr des 70. Gründungsjubiläums der Volksrepublik China gehen Millionen von Menschen in Hongkong auf die Straße. Was als Protest gegen ein Auslieferungsgesetz begann, steigert sich wöchentlich zu einem immer größeren Protestlauf gegen die pekingfreundliche Stadtregierung und zu einem Ruf nach Demokratie und grundlegenden Freiheiten. Dieser Widerstand in Hongkong ist kein singuläres Ereignis. Er ist nicht nur eine Herausforderung für die autoritär regierende KP Chinas durch die offenbar überaus aktive Bürgergesellschaft Hongkongs. Er steht auch für Auflösungserscheinungen an den Rändern der Volksrepublik, deren Bekämpfung mit außerordentlich hohen politischen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt menschlichen Kosten verbunden ist, wie etwa in Xinjiang und Tibet.
Diese Auflösungserscheinungen sind das Ergebnis mangelnden Rückhalts des chinesischen Staates bei großen Bevölkerungsteilen, was durch die expansive Politik Pekings noch beschleunigt wird. Die dadurch verschärften Konflikte fordern ihrerseits neues, noch repressiveres Eingreifen, um die Macht der KP zu schützen. Im Ergebnis erzeugt der chinesische Staat durch sein Handeln immer neue Krisen. Es ist offen, wie Peking auf die Proteste in Hongkong reagieren wird. Die propagandistische Mobilmachung der eigenen Bevölkerung und das Auffahren von Militär und Sicherheit lassen jedoch nichts Gutes erwarten.
Parteichef Xi Jinping selbst hat schon früh die ideologische Grundlage für diese Krisenspirale gelegt. Mit dem „Dokument Nr. 9“, das 2013 bekannt wurde, hat er so genannte „westlichen Ideen“ wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Pluralismus ganz offen den Kampf angesagt. Es ist erstaunlich, dass der Westen, etwa die Europäische Union, bei dieser sich abzeichnenden bedrückenden Beweislage sechs Jahre brauchte, um zu erkennen, dass die Volksrepublik unter Xi Jinping mittlerweile ein „systemischer Rivale“ ist. Hätte man Xi Jinping schon bei Bekanntwerden des „Dokument Nr. 9“ beim Wort genommen, hätte dies sofortige Konsequenzen für die bilateralen Beziehungen mit China haben müssen.
Was Xi Jinping schon früh postuliert hatte, ist unterdessen reale Politik geworden. Drastisch und unverhohlen rassistisch ist die Politik in Xinjiang, wo Millionen in Einrichtungen zur „Umerziehung“ auf ein systemkonformes Leben getrimmt werden. Erfinder dieser präventiven Kollektivhaft ist ein Parteisekretär, der sich seine Sporen in Tibet verdient hat. Mit seiner dortigen harten Hand gegenüber Andersdenkenden und Protesten von Tibetern hat er sich offenbar für die Aufgabe in Xinjiang hervorgetan. Wie die drastischen Maßnahmen die betroffenen Uiguren nachhaltig auf die Seite der Partei ziehen sollen, ist fraglich. Es ist wird wohl in Peking auch gar nicht erwartet.
An der Peripherie der Volksrepublik liegt auch das von China mit deutlich rassistischen Untertönen kolonisierte Tibet. In Tibet herrscht ein totalitärer Polizeistaat, der die tibetische Kultur hohl und plakativ als Museumsware vermarktet. Wenn Parteikader zu Tausenden in tibetische Regionen entsandt werden, um die Bevölkerung zu indoktrinieren und ganz unverblümt auszuspionieren, dann dürfte den Objekten dieser „patriotischen Erziehung“ klar sein, wie sie von der Partei gesehen werden: als Fremdkörper, der unter Generalverdacht steht und der jederzeit zu kontrollieren ist. Es ist nur schwer vorstellbar, dass der chinesische Staatsapparat mit dieser systematischen Diskriminierung nachhaltigen Rückhalt in Tibet erzeugen kann. Und die nächste schwere Krise in Tibet ist bereits vorprogrammiert. Dann nämlich, wenn der 14. Dalai Lama versterben sollte und Peking einen Dalai Lama von seinen Gnaden einsetzen will. Zu erwarten ist, dass Tibeterinnen und Tibeter einen solchen Affront Pekings nicht hinnehmen werden.
Eine Antwort auf den „systemischen Rivalen“ kann nur so lauten, dass die offen demokratie- und menschenrechtsfeindliche Politik Pekings Konsequenzen hat, diplomatisch, politisch oder wirtschaftlich. Verbale Entrüstung reicht nicht aus. Es geht um mehr als nur um Hongkong, Xinjiang oder Tibet. Es geht um ein expansives, repressives Regime, das zwangsläufig Krisen verursachen wird. Ob diese sich dann allein auf die Ränder der Volksrepublik beschränken werden, muss bezweifelt werden.
Autor: Kai Müller, Geschäftsführer der International Campaign for Tibet
.