Der ehemalige Sondergesandte des Dalai Lama, Kelsang Gyaltsen, im Interview. Foto: ICT

Kelsang Gyaltsen war viele Jahre lang der Sondergesandte des Dalai Lama. In seinem Auftrag führte der heute 70-Jährige mit seinem inzwischen verstorbenen Kollegen Lodi Gyari die Verhandlungen der tibetischen Exilregierung mit der Kommunistischen Partei Chinas über eine Autonomie Tibets. Seit Januar 2010 sind die Gespräche unterbrochen und konnten bis heute nicht wieder aufgenommen werden. Im Exklusiv-Interview mit der International Campaign for Tibet (ICT) spricht Gyaltsen aus seinem Schweizer Exil über seine Sorge einer gewaltsamen Eskalation des Konflikts, aber auch über seinen Optimismus, dass das „brutale“ chinesische Regime nicht alle Zeiten überdauern wird.

Herr Gyaltsen, die letzten Autonomiegespräche zwischen Tibetern und der chinesischen Regierung liegen zwölf Jahre zurück. Die Kommunistische Partei hat die Zügel ihrer Herrschaft unter Staatspräsident Xi Jinping enorm angezogen. Überwachung und Unterdrückung in Tibet und in der Volksrepublik sind inzwischen beispiellos. Glauben Sie immer noch, dass eine Autonomie möglich ist?

Gyaltsen: Viele Regierungen in der Welt sind lange Zeit davon ausgegangen, dass Chinas Liberalisierung automatisch vonstatten gehen würde, wenn es wirtschaftlich in die Weltgemeinschaft integriert wird. Aber es ist jetzt sehr deutlich und klar, dass mit der jetzigen chinesischen Führung kein bedeutungsvoller Dialog möglich sein wird. Da habe ich keinerlei Hoffnung. Ich bin dennoch der Ansicht, dass dieser politische Kurs immer noch der richtige sein kann.

Was macht Sie unter diesen Umständen noch so optimistisch?

Schon in den 1970er und -80erJahren haben mir amerikanische und deutsche Freunde aus tiefer Anteilnahme gesagt, dass sie Tibet als verloren ansehen. Aber die Widerstandsbewegung in Tibet hat sich im Laufe der Jahre immer weiter fortgesetzt. 2008 hatten sich bereits die zweite und dritte Generation gegen die chinesische Herrschaft erhoben. Im gesamten tibetischen Hochplateau kam es damals zu Protesten. Die Idee eines freien Tibet bleibt also in den Köpfen der Tibeter. Allerdings muss ich auch zugestehen, dass momentan eine Rückkehr zur Atmosphäre wie zu Zeiten der Kulturrevolution herrscht. Die Bewegungsfreiheit ist enorm eingeschränkt, neben jedem Kloster befindet sich heute eine Polizeiwache, und es gibt überall Überwachungskameras. Ein Austausch zwischen den Tibetern in Teehäuser oder Restaurants ist kaum möglich, weil so viele Spitzel herumlaufen.

Wie kann es denn unter diesen Umständen gelingen, die tibetischen Interessen nachdrücklich zu verfolgen?

Allein schaffen wir das vielleicht nicht. Deswegen müssen wir uns mit anderen politischen Kräften zusammenschließen und darauf hinarbeiten, dass in China grundlegende politische Änderungen stattfinden. Ich spreche von all jenen, die direkt von der chinesischen Unterdrückungspolitik betroffen sind: Uiguren, Hongkonger, Mongolen, auch chinesische Demokratieaktivisten oder Exilanten, die nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens ins Ausland geflohen sind. Für diesen Wandel in China hoffen wir natürlich auch auf die robustere und effektivere Unterstützung der demokratischen Regierungen der Welt. Diese müssen jenen Kräften in der Volksrepublik, die sich unter großer persönlicher Gefahr für demokratische Veränderungen einsetzen, mehr Gehör und Unterstützung und viel mehr politische Bedeutung zukommen lassen.

Bedeutet die aktuelle Aufmerksamkeit der Welt für die Situation der Uiguren in Xinjiang nicht gleichzeitig einen Verlust an Interesse an der tibetischen Frage?

Nein, wir stehen nicht in einem Wettbewerb um Aufmerksamkeit zueinander. Es geht darum, der Welt klar zu machen, was für eine brutale Diktatur die Kommunistische Partei Chinas aufgebaut hat. Als in der Welt nur die tibetische Stimme wahrgenommen wurde, hat man dieser nicht so viel Interesse geschenkt. Jetzt sieht die Welt, es sind nicht nur die Tibeter, sondern auch viele andere, die darunter leiden. Je sichtbarer der wahre Charakter des Pekinger Regimes wird, desto größer wird das Bewusstsein, welche Bedrohung die chinesische Diktatur für die internationale liberale Ordnung darstellt.

Wie definieren Sie diese Gefahr für die Welt?

Die KP nimmt alles, was nicht ihrem Selbstverständnis entspricht, als Bedrohung für ihre eigene Existenz wahr. Schon zu Beginn der Öffnungspolitik hat die KP vor „geistiger Umweltverschmutzung“ gewarnt. Damit meinte sie Konzepte wie Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit. Die Politik der KP ist nicht nur darauf ausgelegt, in China Widerspruch zu unterdrücken, sondern auch in anderen Ländern. Schauen Sie auf all die ausländischen Konzerne, die sich unterwerfen mussten, damit sie weiterhin Geschäfte in China betreiben können. Die Rücksichtnahme auf die Befindlichkeiten der chinesischen Regierung ist in jüngster Vergangenheit enorm gewachsen. Je enger die wirtschaftlichen Verbindungen der Staaten zur Volksrepublik China in den vergangenen Jahren geworden sind, desto größer wurde der Abstand, den auch die Politik dieser Staaten zur Tibet-Frage eingenommen hat. Beispielsweise haben politische Stiftungen deutscher Parteien die Zusammenarbeit mit den Tibetern sang- und klanglos aufgekündigt. Diese sukzessive Isolierung spüren wir natürlich.

China engagiert sich in den Institutionen der Welt, um eigene Standards durchzusetzen, technische, aber auch solche, wie wir Menschenrechte definieren. Muss man dem Regime zugestehen, dass es sich damit selbst verteidigen will und gegen das vorgeht, was es als zerstörerische Einflüsse wahrnimmt?

Das glaube ich nicht. Dann muss man in dieser Logik auch der Junta in Myanmar das Recht zusprechen, sich zu verteidigen. Seine Heiligkeit der Dalai Lama hat einmal gesagt, dass universelle Menschenrechte für alle gültig sind, sonst hat jedes Land seine eigenen Werte. In der freien Welt haben wir uns darauf geeinigt, weil wir zu der Erkenntnis gekommen sind, dass Menschenrechte eine Grundbedingung für Frieden auf der Welt sind. Sie sind kein Luxusgut, sondern zum Schutz aller formuliert worden. Daher ist die weltweite Verteidigung der Menschenrechte auch aktive Friedenspolitik. Außerdem ist das Gebaren der chinesischen Regierung tief verwurzelt in einer Form des Kultur-Chauvinismus. Minderheiten wie Tibeter und andere sind in dieser Denkweise gleichzeitig auch minderwertige Völker und Kulturen. Xi Jinping propagiert den chinesischen Traum. Tibeter oder Uiguren haben in diesem Traum aber überhaupt keinen Platz.

Ende Mai nimmt die neugewählte Exilregierung um den neuen Präsidenten Penpa Tsering ihre Arbeit auf. Wie wichtig ist die Rolle der Exilregierung und des Sikyong für die tibetische Frage?

Die Existenz der Regierung ist von zentraler Bedeutung. Wenn man das eigene Land verlassen und ins Exil gehen muss, dann braucht es eine Organisation und eine Form der Zusammenarbeit, um eigene Anliegen und Interessen wahrnehmen zu können. Genau das gewährleistet die Exilregierung. Vor unserem Exil 1959 haben die Tibeter sehr isoliert gelebt, sogar innerhalb Tibets. Deshalb war das nationale und politische Bewusstsein weniger stark ausgeprägt. Das Gefühl zur regionalen Zugehörigkeit und dörflichen Gemeinschaft war meist viel stärker. Es war eine große Leistung, dass wir eine Exilregierung unter der Leitung Seiner Heiligkeit des Dalai Lama aufbauen konnten. Heute fühlt sich die große Mehrheit der Tibeter von dieser Exilregierung vertreten und setzt auch große Hoffnungen in diese Regierung, was unsere politischen Anliegen angeht. Das ist umso wichtiger, weil das überwiegende Gefühl aller Tibeter heute ein Gefühl der existenziellen Bedrohung ist. Es herrscht die Gewissheit, dass das tibetische Volk als eigenständige Kultur und Identität vor einem Überlebenskampf steht.

Wird dieser Überlebenskampf gewaltlos stattfinden?

Das politische Programm der Exilregierung ist es, strikt gewaltlos vorzugehen und mit der chinesischen Regierung in den Dialog zu treten und eine einvernehmliche Lösung zu suchen. Aber es gibt eine vorwiegend jüngere Generation, die nicht glaubt, dass im Dialog eine einvernehmliche Lösung gefunden werden kann. Zeitlebens wird der Dalai Lama ausreichend Einfluss ausüben, um einen Ausbruch von Gewalt zu verhindern. Deshalb befürchte ich sehr, wenn der Dalai Lama eines Tages nicht mehr unter uns ist und die chinesische Regierung weiterhin die brutale Unrechtspolitik in Tibet fortsetzt, dass sich Wut und Frust in gewalttätigem Widerstand ausdrücken werden.

Und wie geht es dem Dalai Lama?

Es geht ihm gut. Er erfreut sich bester Gesundheit. Die Tibeter sind sehr überzeugt, dass Seine Heiligkeit über 100 Jahre alt wird, und der Dalai Lama selbst hat öfter versichert, dass er bestrebt und gewillt ist, über 100 Jahre zu leben.

Bis dahin ist viel Zeit. Der Dalai Lama wird im Juli 86 Jahre alt. Dennoch: Was geschieht, wenn er eines Tages stirbt?

Da kann man nur spekulieren. Das ist sicherlich nicht klug. Aber ich mache mir Sorgen, dass der tibetische Widerstand, wie andere Freiheitsbewegungen in der Geschichte, als politischer Spielball durch ausländische Mächte missbraucht werden kann.

Was heißt das genau?

Unter der Führung des Dalai Lama haben keine ausländischen Mächte Einfluss nehmen können auf die tibetische Bewegung, weil die Tibeter geschlossen hinter dem Dalai Lama stehen. Aber eines Tages könnten Dritte versuchen, die Tibeter in ihre politischen Strategien einzuspannen. Wir kennen ja solche Beispiele aus der Vergangenheit.

Halten sie Xinjiang oder Hongkong für aktuelle Beispiele, die eine solche Einflussnahme dokumentieren?

Nein. Ich habe keinen Grund für eine solche Annahme. Was ich mit Gewissheit sagen kann, ist, dass im Falle Tibets der Dalai Lama garantiert, dass wir nicht zu einem Werkzeug anderer werden.

Der Exilregierung trauen sie eine solche Abwehr der Einflussnahme nicht zu?

Erst 2011 hat der Dalai Lama die politische Verantwortung abgegeben. Seitdem haben wir drei Wahlen absolviert. Das ist noch zu wenig Zeit, um sagen zu können, dass unsere demokratischen Strukturen jede Erschütterung überstehen können. Wenn wir noch drei oder vier weitere Wahlperioden haben, werden sich diese Institutionen festigen und wir können auch nach dem Tode Seiner Heiligkeit des Dalai Lama fremden Einflüsse widerstehen.

Drängen Kräfte in die Exilregierung, die von gewaltlosem Widerstand Abstand nehmen würden?

Solange der Dalai Lama lebt, wird sein Einfluss so stark sein, dass kein Exilpolitiker eine grundlegend andere Haltung einnehmen kann. Das wissen alle Tibeter, dass sie in dem Fall keine Chance hätten, gewählt zu werden.

Gibt es Tage, an denen sie frustriert sind und die Hoffnung verlieren?

Natürlich habe ich manchmal das Gefühl, es geht nicht vorwärts. Aber grundsätzlich bin ich optimistisch, weil ich nicht glaube, dass so ein totalitäres Unrechtsregime wie das der Kommunistischen Partei über lange Zeit erhalten bleiben kann. Nicht nur weil Tibeter oder Uiguren dagegen sind. In China selbst gibt es unter den Gebildeten und Akademikern vielmehr Frustration, Ressentiments und das Gefühl, dass es so nicht richtig ist. Es ist weiter verbreitet, als man allgemein annimmt. Solche totalitären Systeme haben viele Schwachstellen, und es braucht nicht viel, um das ganzes Gebäude zum Zusammenbruch zu bringen. Ich bin überzeugt davon, dass ein so großes Volk wie das chinesische sich über so lange Zeit nicht manipulieren lässt und unter Zwang in Unfreiheit leben kann.

Mit Kelsang Gyaltsen sprach Marcel Grzanna, Journalist und Autor des Buches „Eine Gesellschaft in Unfreiheit“, in dem er über seine neun Jahre als Korrespondent in China schreibt.

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