Die deutsch-chinesischen Regierungskonsultationen vom 20. Juni hatten ein ungutes Gefühl hinterlassen. Vor den Augen der Öffentlichkeit hatte sich die Bundesregierung dem Druck Pekings gebeugt und – wie bei Autokraten üblich – nach den Statements von Bundeskanzler Scholz und Premier Qiang keine Nachfragen der Presse zugelassen. Aus menschenrechtlicher Sicht ein schlechtes Omen für die lange erwartete „umfassende China-Strategie“, der sich die Ampelkoalition im Koalitionsvertrag verpflichtet hatte. Das dann am 13. Juli in Berlin von Außenministerin Baerbock bei MERICS vorgestellte Papier indes bietet ein gemischtes Bild, mit positiven Aspekten, aber auch einigen unbeantworteten Fragen. Ein unvollständiger Blick auf die menschenrechtlich relevanten Punkte.
Die Grundannahme von der Trias „Partner, Wettbewerber und Rivale“ spiegelt die grundsätzliche Ambivalenz der europäischen und deutschen China-Politik wider. Ist etwa die „Partnerschaft“ mit China in der Klimapolitik von politischen Antagonismen zu trennen, wie es etwa der amerikanische Klimabeauftragte Kerry unlängst postuliert hat? Bedeutet dies, dass Kernprinzipien von Nachhaltigkeit, wie etwa Partizipation und Rechtsstaatlichkeit im „Klimadialog“ mit China, ausgeblendet – und damit auch die Verfolgung von Klimaaktivisten durch die chinesische Regierung oder die Massenumsiedlung tibetischer Nomaden von der Bundesregierung nicht thematisiert werden?
Und: die chinesische Führung hat doch selbst die Isolierung der Klimapolitik von politischen Fragen öffentlich und mit Nachdruck ausgeschlossen. Zu befürchten ist eher, dass Peking die Klimafrage instrumentalisiert und als Druckmittel verwendet, um politisch wohlgefälliges Verhalten des Westens zu erreichen. Die Sicht auf die chinesische Regierung als „Partner“ scheint daher aus der Illusion gewachsen zu sein, die chinesische Seite würde die Klimafrage genauso sehen wie wir. Was dazu führen könnte, dass der Westen zu allerhand Konzessionen bereit ist. Die systematische Verletzung der Menschenrechte durch die chinesische Regierung könnte daraus erneut als „Kollateralschaden“ hervorgehen. Pluspunkt in der China Strategie im Bereich Klimapolitik ist indes die beabsichtige Einbindung der Zivilgesellschaft in den Klima- und Transformationsdialog. Nur: bedeutet das, dass auch Menschenrechtsorganisationen einbezogen werden, um Fragen von Partizipation und Rechtsstaatlichkeit – auch als Querschnittsthema – ansprechen zu können?
Die China-Strategie benennt die Defizite im Menschenrechtsbereich, in Ostturkestan, in Hongkong und auch in Tibet. Der Koalitionsvertrag der Ampel hatte zu Tibet noch geschwiegen, was erstaunte, da doch schon 2021 klar gewesen sein dürfte, wie es die China-Strategie formuliert, dass sich China „verändert“ habe, und zwar zum Negativen. Die China Strategie holt damit zuvor Versäumtes nach. Die Feststellung, China habe sich verändert, ist dabei richtig und falsch zugleich. Richtig, weil Xi Jinping – getrieben von totalitärer Ideologie und einem mit der Mao-Zeit wetteifernden Personenkult – die Repression im Inneren, gegenüber Uiguren und Tibetern systematisch verschärft, und Hongkongs demokratischen Rechtsstaat im Rekordtempo abgewickelt hat.
Gegenüber Tibetern und Uiguren wird eine sogenannte Nationalitätenpolitik umgesetzt, die auf umfassende Angleichung von ethnischer Differenz an eine von der Kommunistischen Partei verordnete Ideologie abzielt, von der KP irreführend als Politik der „Sinisierung“ ausgegeben. Unterlegt ist dies von einer Ideologie, die sich bewusst in Gegnerschaft zu universellen Konzepten von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Pluralismus setzt, erkennbar seit dem 2012 verabschiedeten Strategiepapier der Partei, dem „Dokument Nummer 9“. Falsch ist die Feststellung einer Veränderung der chinesischen Politik indes, weil es schon vor dem Amtsantritt Xi Jinpings systematische Repressionen und Verfolgung gegen Dissidenten, gegen die Tibeter und Uiguren gegeben hat, die auch in der Ideologie und Programmatik der Partei fest verankert waren.
Mit der Folge, dass es 2008 in Tibet zu landesweiten Protesten kam, die von den chinesischen Behörden mit Gewalt niedergeschlagen wurden, wobei bis heute unklar ist, wie viele Tibeter dabei zu Tode gekommen sind. Unmittelbare Reaktion der Behörden war die Verschärfung von Repressionen in ganz Tibet, mit umfassender ideologischer Indoktrinierung und Überwachung. In Ostturkestan – vor dem Hintergrund lange anhaltender Repressionen – kam es 2009 zum Massaker von Urumchi. Die Verbrechen der Kommunistischen Partei in Ostturkestan, wie sie etwa die UNO-Hochkommissarin in ihrem Bericht aus 2022 dokumentierte, sind nicht vom Himmel gefallen, sondern auch sie sind das Ergebnis schon lange anhaltender Unterdrückung und Verfolgung.
Unvergessen bleibt auch das Schicksal des einzigen chinesischen Friedensnobelpreisträgers, des 2009 zu elf Jahren Haft verurteilten und 2017 verstorbenen Liu Xiaobo. Nun ist eine China-Strategie kein Ort historischer Betrachtung. Doch aus dem Papier folgt der Eindruck, dass Handlungsdruck erst dann entsteht, wenn die Politik der KP Konsequenzen für uns hat. Etwa durch die Bedrohung Taiwans, oder durch das Spiel der KP mit Zugang zu Rohstoffen und Markt, und letztlich durch die „grenzenlose Partnerschaft“ mit Russland. Oder wenn die Politik der KP so offen und unwiderlegbar verbrecherisch ist, wie gegenüber den Uiguren. Aus menschenrechtlicher Sicht macht das sehr nachdenklich.
Offen bleibt, wie die Bundesregierung Menschenrechts- und Rechtsstaatsdialoge „neu aufstellen“ will, wie das Papier es formuliert, und wie sie das überhaupt mit einem Gegenüber erreichen will, der beharrlich zum Ausdruck bringt, dass er gar kein Interesse an einem ernsthaften Dialog über Menschenrechte hat. Immerhin lässt sich die China-Strategie nicht dazu verleiten, den Menschenrechtsdialog wie bisher reflexhaft als das Mittel der Wahl zu bezeichnen, um Menschenrechte gegenüber der chinesischen Regierung zu thematisieren. Denkbar wäre aber auch eine klarere Sprache gewesen. Nämlich den Menschenrechtsdialog in dieser Form als ineffektiv zu bezeichnen, weil das schlicht den gewachsenen Erfahrungen der letzten Jahre entspricht. Und auch, um sich damit frei zu machen für andere Ansätze. Ein Punkt, auf den die Zivilgesellschaft mit besonderem Interesse achten wird.
Ebenso wichtig wird die Haltung der Bundesregierung auf EU- und UNO-Ebene sein. Der Bezug auf das EU-Sanktionsregime ist zu begrüßen und auch der erklärte Willen, bei den Vereinten Nationen Menschenrechtsverletzungen der chinesischen Regierung anzusprechen. Entscheidend wird jedoch sein, wie viel politisches Kapital die Bundesregierung einzusetzen bereit ist. Nicht nur, um Dinge anzusprechen, sondern auch um Führung zu zeigen, mit konkreten Initiativen, gemeinsam mit anderen, ohne auf die Führung anderer zu warten. Hier wird es nicht ohne Konflikte gehen, und es bleibt abzuwarten, ob die Bundesregierung sich als resilient genug sieht, diese dann unvermeidbare Konfrontation mit der chinesischen Regierung durchzustehen.
Die China-Strategie der Bundesregierung will die China-Kompetenz in Deutschland stärken. Das ist ohne Zweifel zu begrüßen und auch notwendig. Doch worauf soll sich dies Expertise beziehen? Spezifisches Wissen über Tibet, Ostturkestan oder Hongkong jedenfalls ist in Europas Think-Tanks und Stiftungen – mit Ausnahmen – noch größere Mangelware, als Kenntnisse über die chinesische Politik. Mit der China-Strategie, ihren mehr oder weniger knappen Statements wie zuletzt vor dem Menschenrechtsausschuss im Deutschen Bundestag oder vor dem UN-Menschenrechtsrat hat die Bundesregierung jedenfalls schon deutlich mehr gesagt als viele unabhängige Forschungseinrichtungen.
Das verwundert, wenn doch die Lage der Uiguren oder der Tibeter derart großen Einfluss auch auf deutsche Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit haben kann, wie zuletzt bei den Olympischen Spielen in Peking 2008 und 2022, oder etwa bei EU-Sanktionen aufgrund der Lage der Uiguren. Und wir müssen davon ausgehen, dass sich die Krisen im Inneren des Herrschaftsbereiches der Kommunistischen Partei wiederholen oder sich sogar verstärken, und auch von der Politik der KP in Ostturkestan oder Tibet hervorgerufen werden können. In solchen Krisensituationen fehlt es an Kompetenz. Gerade diese Kompetenz sollte also aufgebaut werden. Aber nicht entlang von Vorstellungen, die ganze Völker und deren Geschichte, ihre politische Verfasstheit und Kultur durch die Brille Pekings verstehen, und allzu schnell die Narrative Pekings akzeptieren. Narrative, die oftmals, besonders was Tibeter und Uiguren betrifft, mit einer kolonialen Attitüde arbeiten. China-Expertise sollte die Völker im Herrschaftsbereich der KP dagegen als handelnde Akteure verstehen und sensibel gegenüber kolonialen Denkmustern sein. Die Bundesregierung sollte Stiftungen, Think-Tanks und Forschungseinrichtungen dazu ermutigen, ganz gezielt Kompetenzen in Bezug auf die Frage der Menschenrechte, und besonders der Rechte von Uiguren und Tibetern aufzubauen.
In der öffentlichen Diskussion der China-Strategie überwiegen die wirtschafts- und handelspolitischen Aspekte. Sollen wir einer Politik des „De-Risking“ oder des „De-Coupling“ folgen? Wie steht es um die Reziprozität der Marktzugänge und Bedingungen für Unternehmen, die auf dem chinesischen Markt aktiv sind? In Zeiten von Rekordinvestitionen deutscher Unternehmen in China und drohender Konflikte mit China sind das berechtigte Fragen. Doch auch in diesen Fragen überwiegt die Selbstbezogenheit deutscher China-Politik.
Der blinde Fleck bleibt die Frage, wieviel Mitverantwortung Deutschland – Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – als eine führende Handels- und Industrienation hat, am Aufstieg und an der Festigung einer mittlerweile totalitären Diktatur, die sich in Gegnerschaft zu universellen menschlichen Werten stellt. Eine zweifellos vorgelagerte Fragestellung, die nicht in einer China-Strategie abgehandelt werden kann, die aber dennoch diskutiert werden sollte. Verabschieden sollte sich die Debatte auf jeden Fall von Unworten wie „Wertegeklingel“, „Schaufensterpolitik“ oder „Monstranz der Menschenrechte“, die doch nur anzeigen, dass eine Reflektion über unser Verhältnis zu China nicht stattfinden soll. Es täte uns gut.