Interview mit dem neuen Sikyong der tibetischen Exil-Regierung, Penpa Tsering. Foto: tibet.net

Penpa Tsering heißt der neue Sikyong der tibetischen Exil-Regierung. Am 27. Mai 2021 tritt er das Präsidentenamt an, das er für die kommende Wahlperiode für fünf Jahre übernehmen wird. Im Interview mit der International Campaign for Tibet Deutschland spricht Tsering über seine Ambitionen. Der 55-Jährige verspricht, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um die chinesische Regierung von der Wiederaufnahme des Dialogs mit den Tibetern zu überzeugen. Überragend wichtig sei eine Lösung der Tibet-Frage zu Lebzeiten des Dalai Lama.

Sikyong Penpa Tsering, die Beziehungen Chinas zu den USA, der EU, seinen Nachbar- und vielen Anrainerstaaten des Südchinesischen Meeres, aber auch zu Australien und Neuseeland haben sich in den vergangenen Jahren deutlich verschlechtert. Was bedeutet das für die Tibet-Frage?

Wir Tibeter weisen seit 50 Jahren darauf hin, dass man der chinesischen Regierung nicht vertrauen kann. Tatsächlich wacht die internationale Gemeinschaft jetzt auf, und vielleicht wird das die Perspektive auf diesen Konflikt verändern. Denn das ist es in meinen Augen: ein sino-tibetischer Konflikt, keine Tibet-Frage. Das ist die Realität. Die Welt hat auf das Verantwortungsbewusstsein Pekings gehofft. Aber diese Hoffnungen haben sich seit Chinas Aufnahme in die Welthandelsorganisation 2001 nicht erfüllt. Aber die Welt ist in stetigem Wandel, und globale Fragen zu Sicherheit oder Handel können die Dinge schnell verändern. Wir müssen darauf warten, dass sich auf Seiten der chinesischen Regierung der gesunde Menschenverstand durchsetzt und dann sehen wir, wie es weitergeht.

Was kann einen solchen Mentalitätswandel auslösen?

Als Buddhist glaube ich an das Gesetz der Unbeständigkeit, also die Vergänglichkeit des Existierenden. Im Augenblick scheint China sehr stark zu sein, aber wenn ein Land in der Macht eines Mannes liegt, dann ist diese Person auch verantwortlich für alles, was falsch und richtig läuft. Natürlich hat die chinesische Regierung politische, militärische und wirtschaftliche Kraft. Aber ihre Schwachstelle ist der Mangel an Moral. In den internationalen Beziehungen setzt Staatspräsident Xi Jinping auf Antagonismus. Er wird das innerhalb der Kommunistischen Partei verantworten müssen. Zurzeit befindet sich China nicht auf dem richtigen Weg.

Was setzen Sie sich als Ziel ihrer Amtszeit?

Wir wollen weiter daran arbeiten, dass die chinesische Regierung die Autonomie-Gespräche mit den Tibetern wieder aufnimmt, nachdem sie 2010 abgebrochen worden sind. Als Grundlage für die Verhandlungen dient weiterhin das Memorandum über echte Autonomie von 2008, in dem wir für eine Lösung des Tibet-Konflikts die Grundsätze des Mittleren Weges bestärken. Der Mittlere Weg ist einst von Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama vorgeschlagen, von den Tibetern unterstützt und durch das Exil-Parlament bestätigt worden. Chinas Regierung ist am Zug, einen Gegenvorschlag zu formulieren, wenn sie nicht zufrieden ist. Es geht um eine Lösung, die für beide Seiten akzeptabel ist und von der beide Seiten profitieren. Einseitigkeit hilft nicht weiter.

Wie soll der Dialog wieder in Gang kommen, auf formellem oder informellem Weg?

Zunächst einmal werde ich mich intensiv mit meinem Vorgänger Lobsang Sangay austauschen, um mich über seine Arbeit im Detail zu informieren und entsprechende Schlussfolgerungen für mich daraus zu ziehen. Dann werde ich alle Optionen ausloten, auf welchem Weg der Dialog mit der chinesischen Regierung wieder aufgenommen werden könnte.

Gibt es denn in der chinesischen Regierung Befürworter eines Dialoges?

Wie in jeder Regierung und Gesellschaft gibt es auch in der chinesischen unterschiedliche Auffassungen darüber, wie der Konflikt gelöst werden könnte. Aber die Realität ist auch, dass unter Staatspräsident Xi kein Sinn für die Dringlichkeit einer Lösung des Problems zu existieren scheint. Wenn wir nach Xinjiang, Hongkong oder Taiwan schauen, oder Chinas Beziehungen zur EU und den USA betrachten, dann sieht es zurzeit so aus, als sei das Interesse der chinesischen Regierung an einvernehmlichen Lösungen sehr gering. Aber wir hoffen auf einen Sinneswandel in der chinesischen Führung.

Was begründet die Dringlichkeit, die Sie ansprechen?

Die chinesische Regierung glaubt, sie hätte viel Zeit, während Tibet von immer mehr Han-Chinesen bevölkert wird. Das kommt einem kulturellen Genozid gleich. Auch das Alter Seiner Heiligkeit des Dalai Lama spielt eine entscheidende Rolle. Er hat 2011 zwar die politische Verantwortung abgetreten, aber auch nach seinem Rückzug ist er gemäß Artikel 1 der Exil-Charter der Sprecher aller Tibeter. Deswegen muss ein Dialog mit der chinesischen Staatsführung zumindest unter Teilnahme des Sondergesandten des Dalai Lama stattfinden, solange er lebt. Seine Heiligkeit ist nicht Teil des Problems, wie die chinesische Regierung es behauptet, sondern er ist Teil der Lösung.

Der Dalai Lama ist bald 86 Jahre alt.

Und deshalb drängt die Zeit. Sein Einfluss auf die Tibeter ist von fundamentaler Bedeutung. Besonders wenn es darum geht, gewaltlos für Autonomie zu kämpfen, ist Seine Heiligkeit unersetzbar. Er ist der Einzige, der diesen Einfluss ausüben kann. Sollte er uns vorzeitig verlassen, wird es schwierig. Die kommenden fünf bis zehn Jahre werden entscheidend sein.

Haben Sie selbst denn nicht genügend Einfluss auf die Menschen in Ihrem Amt als Sikyong?

Ich bin nur ein einfacher Tibeter. Ich genieße weder den Einfluss noch den Respekt, den ein religiöser Führer erfährt. Deswegen muss eine Lösung her, solange der Dalai Lama lebt. Sonst könnten sowohl China als auch die Tibeter großen Schaden davontragen. Die chinesische Regierung hat 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens bewiesen, dass sie bereit ist, ihre Landsleute zu töten, wenn es um den Machterhalt der Kommunistischen Partei geht. Ganz sicher hätte sie erst recht kein Problem damit, Tibeter zu töten. Allerdings haben die Tibeter bislang jeder Form von Gewalt widerstanden.

Wäre es denkbar, der chinesischen Regierung in möglichen Verhandlungen ein Mitspracherecht einzuräumen bei der Wahl der religiösen Führer der Tibeter, wie dem Dalai Lama oder dem Panchen Lama?

Eine chinesische Einmischung in religiöse Angelegenheiten ist absolut keine Option. Wir praktizieren seit fast 1400 Jahren den Buddhismus. Die Spiritualität, die Praxis der alten Religion stehen im Zentrum unserer Existenz, sie definieren unsere Art zu leben. Es ist wichtig, dass die chinesische Regierung versteht, dass es den Tibetern eben nicht nur um materielle Entwicklung geht, sondern darum, unsere kulturelle Identität zu bewahren. Wenn sie das nicht begreift, dann kann sie das Problem nicht lösen. Wer sich in religiöse Angelegenheiten einmischen will, sollte zunächst Buddhismus lernen.

Haben Sie sich einen Zeitplan vorgenommen?

Nein, der liegt nicht in unserer Hand, sondern bei der chinesischen Regierung. Wir können nur zu überzeugen versuchen, dass Dialog der beste Weg ist. Wir sind Nachbarn und das können wir nicht ändern. Es ist sinnvoll, gute Beziehungen zueinander zu pflegen. Seine Heiligkeit der Dalai Lama verweist gerne auf die Europäische Union als Beispiel für die gelungene Befriedung einer Region. Ohne die EU wären die Auseinandersetzungen unter den Völkern Europas in den vergangenen Jahrzehnten sicher schärfer verlaufen. Wir erwarten von der chinesischen Regierung, dass sie die Interessen aller Nationalitäten in diesem Stil berücksichtigt.

Die chinesische Propaganda stellt die Besetzung Tibets als Befreiung der Tibeter von der Sklaverei dar. Mit ihr sei der Wohlstand nach Tibet gekommen. Gibt es irgendetwas, das sie der chinesischen Politik zugutehalten für die Entwicklung Tibets?

Unser Verwaltungssystem vor der Besatzung durch die Volksrepublik China ist sicher nichts, auf das wir Tibeter sonderlich stolz sind. Das bedeutet aber nicht, dass die Propaganda Recht hat. Wir waren frei, unsere Religion so auszuüben, wie wir es wollten. Sicherlich war unsere Gesellschaft durch feudale Strukturen charakterisiert. Aber diese Entwicklung haben sehr viele Nationen durchlaufen. Tibet hätte sich auch dann entwickelt, wenn wir frei gewesen wären in den vergangenen 70 Jahren. Der Dalai Lama hatte schon in den 1950er Jahren Reformen geplant. Doch wir haben nie die Chance bekommen, diese Reformen umzusetzen.

Sehen sie Reformbedarf innerhalb der Exilregierung?

Die Grundsatzentscheidung des Mittleren Weges kann nicht vom Parlament oder dem Sikyong überworfen werden. Dazu bedarf es eines weiteren Referendums. Sollte es eine bessere politische Option geben als den Mittleren Weg, dann sind wir bereit, uns das anzuhören. In einer Demokratie ist es normal, unterschiedlicher Auffassung zu sein. Aber wenn wir beginnen würden, nach Unabhängigkeit zu streben, würden sich alle Türen zum Dialog mit der chinesischen Regierung endgültig schließen.

Welche Rolle spielen die Frauen in der tibetischen Exil-Politik?

Die Zahl der Ministerien wird die gleiche bleiben, wie es unsere Charta vorsieht. Für die insgesamt sieben Ministerposten werde ich dem Parlament unter anderem drei Frauen vorschlagen. So viele Frauen gab es noch nie in einem tibetischen Kabinett.

Mit Penpa Tsering sprach Marcel Grzanna, Journalist und Autor des Buches „Eine Gesellschaft in Unfreiheit“, in dem er über seine neun Jahre als Korrespondent in China schreibt.

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