SPRACHPOLITIK IN TIBET

Foto: John Birchak

Sprache ist das Fundament der tibetischen Identität, Religion und Kultur. Sie ist Träger des tibetischen Wissens in Philosophie, Ethik, Recht, Wissenschaft und Kunst und das Medium, in dem Wissen, Erzählungen und Erinnerungen gespeichert und weitergegeben werden. Dem aktiven Gebrauch der tibetischen Sprache, insbesondere im Bereich der Bildung, kommt daher eine besondere Bedeutung zu – denn ein Verlust der tibetischen Sprache führt unweigerlich zu einem Verlust der tibetischen Identität und Kultur, sowohl für die Tibeterinnen und Tibeter als auch für die internationale Gemeinschaft.

Die wichtigsten Fakten:

 

  • Das Bereitstellen von Bildung in Tibet stellt aufgrund der geografischen Ausdehnung, dem ländlichen und nomadischen Lebensstil von großen Teilen der Bevölkerung, der Vielfalt der Dialekte und der fünf verschiedenen politischen Verwaltungseinheiten eine große Herausforderung dar.

Karte der verschiedenen chinesischen Provinzen, die Tibet umfassen: die Autonome Region Tibet sowie Teile von Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan.

  • Die Sprachpolitik in Tibet spiegelt in der Vergangenheit die chinesischen Minderheitenpolitik insgesamt wider, die zwischen der Förderung der ethnischen Identität und der erzwungenen Assimilierung hin- und herwechselt. Hier zeigt sich ein Konflikt zwischen zwei Zielen: Einerseits hilft die Förderung muttersprachlicher Ausbildung der chinesischen Regierung, politische Unterstützung zu gewinnen und ermöglicht eine wirksame Verbreitung der Regierungspolitik; andererseits soll die Durchsetzung von Putonghua (Standard-Mandarin-Chinesisch) als Ausbildungssprache politische Loyalität, Stabilität und ethnische Einheit befördern. Dieser Konflikt ist auch in der chinesischen Verfassung und den nationalen Gesetzen angelegt.

Unterschiedliche Modelle der chinesischen Bildungspolitik für Angehörige sogenannter Minderheiten

BILINGUALER UNTERRICHT

Unter bilingualem Unterricht wird Unterricht unter Einbeziehung von zwei unterschiedlichen Sprachen verstanden. Häufig besteht der Hauptzweck des Erlernens der Muttersprache darin, den Erwerb der Mehrheitssprache zu beschleunigen. Es werden drei Modelle der bilingualen Erziehung eingesetzt:

  • Modell A: Unterricht in tibetischer Sprache mit Putonghua als Unterrichtsfach

  • Modell B: Unterricht in chinesischer Sprache mit Tibetisch als Unterrichtsfach

  • Modell C: Beide Sprachen als Unterrichtssprachen; der Anteil variiert dabei aufgrund der Fähigkeiten von Schülern und Lehrern

NATIONALITÄTEN-UNIVERSITÄTEN

Universitäten, die Kurse und Hauptfächer für Minderheiten und Unterricht in Minderheitensprachen anbieten. Die Universitäten bieten auch Quoten für die Zulassung von Angehörigen von Minderheiten an.

GEMISCHTE KLASSEN

Ein Mehrstufen-Klassenmodell in einer Grundschule mit Lehrermangel in abgelegenen Gebieten.

MINZU GAOKAO (Ende der 1970er Jahre):

Einführung einer eigenen Aufnahmeprüfung für das College für Angehörige von Minderheiten. Die Umsetzung unterscheidet sich je nach Standort, aber die meisten Studenten belegen nur Fächer mit Tibet-Bezug in tibetischer Sprache.

DREI GARANTIEN (1984)

Vorzugspolitik für die ländlichen und nomadischen Gebiete Tibets, die den Schülern im Schulalter kostenloses Essen, Kleidung und Unterkunft bietet.

INTERNATSSCHULEN IM INLAND

Unter der Bezeichnung „Neidi Xizang ban“ werden tibetische Schüler in 19 Provinzen außerhalb der tibetischen Regionen auf chinesische weiterführende Schulen geschickt. Zehn Prozent der Unterrichtszeit wird der tibetischen Sprache gewidmet, der Rest wird für den chinesischen Lehrplan verwendet. Die Schüler nehmen an ideologischen und moralischen Erziehungskursen teil und kehren vier Jahre lang nicht nach Hause zurück.

  • Das Bildungssystem ist in die Primarstufe (1-6 Klasse), Sekundarstufe (7-12 Klasse) und die Tertiärstufe (>3 Jahre) unterteilt. Die Primarschulbildung in tibetischen Gebieten wird im Allgemeinen in tibetischer Sprache erteilt, während die Sekundarschulen auf Chinesisch unterrichten. Es gibt einige tibetischsprachige Sekundarschulen außerhalb der Autonomen Region Tibet, da diese eine größere Freiheit genießen.

Schematische Darstellung des Schulsystems in Tibet und der verwendeten Unterrichtssprachen.

  • Seit den 1990er Jahren hat es sowohl in der Grund- als auch in der Sekundarschule eine klare Verlagerung vom tibetischsprachigen Unterricht hin zum chinesischsprachigen Unterricht gegeben. Diese Politik wurde nach und nach in den tibetischen Gebieten eingeführt und stieß 2010 in Qinghai auf erheblichen Widerstand.

Die schulischen Lehrpläne unterscheiden sich von der tibetischen Kultur in der Denkweise, im emotionalen Ausdruck und in der Werteorientierung, und sie enthalten auch Elemente, die in der traditionellen Kultur nicht vorhanden sind, was es schwierig macht, Schulwissen zu verstehen und zu lernen.

zitiert nach: Gerard Postioglione, Ben Jiao, Li Xiaoliang, and Tsamla, 2013, ‘Popularising Basic Education in Tibet’s Nomadic Regions‘.

  • Der Mangel an tibetischsprachigen Mittelschulen ist auch auf den Mangel an qualifizierten tibetischen Lehrern, das Fehlen von Lehrbüchern in tibetischer Sprache und die Konkurrenz um Lehrerstellen mit Han-Lehrern zurückzuführen. Infolgedessen müssen tibetische Schüler zu Beginn der siebten Klasse ihre Unterrichtssprache wechseln, was zu niedrigen akademischen Leistungen und hohen Abbrecherquoten führt. Die Einschulungsraten stiegen nach 1994 aufgrund der Durchsetzung der neunjährigen Schulpflicht im Allgemeinen an.

 

  • Obwohl der Unterricht in tibetischer Sprache die Einschulungsraten erhöht und zu höheren Bildungsleistungen führt, ist die Befürwortung der tibetischen Sprache kriminalisiert worden, selbst wenn sie rechtmäßig geltend gemacht wird. Auch der von Klöstern oder lokalen Gemeinschaften organisierte informelle Sprachunterricht ist verboten worden.

Tashi Wangchuk wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt, obwohl er sich ausschließlich mit friedlichen Mitteln für den Erhalt der tibetischen Sprache eingesetzt hatte.

  • Es fehlt der politische Wille und das Engagement, eine rechtlich kohärente und kulturell und sprachlich relevante Bildungspolitik zu verfolgen.

Wir fordern von der chinesischen Regierung:

  • eine klare und rechtlich konsequente Bildungspolitik für sogenannte Minderheiten;
  • die Förderung und Finanzierung von Übersetzungen tibetischer Lehrbücher;
  • die Förderung und Finanzierung von zweisprachigen Lehrerausbildungen;
  • die Ausarbeitung regional definierter Lehrpläne;
  • die Förderung und Finanzierung tragfähiger Karrierewege für Absolventen von Minderheitensprachen;

Weitere Informationen finden Sie in unserem Bericht:

Dieser Bericht liefert Hintergrundinformationen über die Richtlinien, die die Bildungspolitik in Bezug auf die tibetische Sprache in Tibet geprägt haben, und skizziert Herausforderungen und Möglichkeiten für Verbesserungen. Es wurde als Einreichung für den Bericht über die Bildungspolitik für Minderheiten des UN-Sonderberichterstatters betreffend Minderheiten in englischer Sprache erstellt.

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