«Staudämme
sind bei Erdbeben
stets gefährdet»
Foto: privat

Der Geomorphologe Dr. Wolfgang Schwanghart forscht und lehrt an der Universität Potsdam. Der Mitarbeiter der AG Naturgefahren verfügt über umfangreiche Erfahrungen hinsichtlich der spezifischen Problematik der Himalajaregion und des Hochlands von Tibet. Feldforschungen haben ihn unter anderem nach Indien und Nepal geführt. Aufgrund seiner Expertise wurde er von internationalen Medien wie der Nachrichtenagentur Reuters im Zusammenhang mit dem verheerenden Erdbeben zitiert, das am 7. Januar große Teile von Südtibet erschüttert hat. Dabei sollen nach offiziellen chinesischen Angaben mindestens 126 Menschen den Tod gefunden haben. Tibetische Quellen bezweifeln die Zahlen und gehen von deutlich mehr Opfern aus.
ICT: Am 7. Januar kam es zu einem schweren Erdbeben in Südtibet. Überrascht es Sie, dass es in dieser Region zu einem Beben gekommen ist?
Dr. Wolfgang Schwanghart: Ja und nein. Auf der einen Seite weist der gesamte Himalaja und seine angrenzenden Regionen aufgrund der tektonischen Gegebenheiten eine hohe Erdbebengefährdung auf. Der indische Subkontinent schiebt sich mit ca. 20 mm pro Jahr unter den Eurasischen Kontinent.
Diese Bewegung baut Spannungen auf, die sich teils mit starken Erdbeben entlädt. In der Vergangenheit wurden Erdbeben mit Magnituden von über 8.0 aufgezeichnet, und Forscher gehen davon aus, dass Magnituden von mehr als 9 möglich sind.
Auf der anderen Seite fand das Beben in Südtibet relativ weit entfernt von den Hauptstörungen an einer Nord-Süd-verlaufenden Störung auf dem Tibet-Plateau statt. Die Beben an diesen Abschiebungen sind weniger häufig und waren meist auch nicht so stark. Somit war das Beben in Südtibet auch eher überraschend.
Das Wasserkraftwerk am Sun Koshi, Nepal, wurde durch eine Hangrutschung und anschließende Hochwasserwelle zerstört. (Foto: privat)
Was denken Sie über die Stärke des Erdbebens und die Auswirkungen auf die Menschen in der betroffenen Region?
Für die Menschen vor Ort sind diese Ereignisse eine Katastrophe. Gerade weil die Erdbeben so selten sind, sind Gebäude und Infrastruktur für die Erschütterungen oft nicht ausgelegt. Mehr als 20.000 Gebäude – darunter auch Klöster – wurden beschädigt und mehrere Tausend stürzten zusammen.
Aufgrund der Entlegenheit aber auch der Höhe der Dörfer– und damit niedrigen Temperaturen – gestaltete sich die Hilfe als schwierig. Aber am schlimmsten ist die hohe Zahl an Todesopfern. Die Anzahl der Toten ist nicht ganz klar und beläuft sich zwischen ca. 120 und 400. Das ist extrem viel, wenn man bedenkt, dass in der direkten Nähe des Epizentrums nur ca. 6.000 Menschen wohnen.
Vergleicht man das mit einer der größten Katastrophen Deutschlands in den letzten Jahren – dem Ahrhochwasser – so ist der Anteil der Verstorbenen in diesem Teil Tibets viel höher. Letztendlich sind das aber alles nur Zahlen, die das individuelle Leid nicht wirklich greifbar machen.
Pokhara, Nepal. Die Hochflutsedimente wurden während einer massiven Sturzflut aufgrund mittelalterlicher Erdbeben abgelagert. (Foto: privat)
China geht sehr zögerlich mit Informationen und Zahlen von Betroffenen um. Wie vertrauenswürdig schätzen Sie die veröffentlichten Zahlen der chinesischen Behörden ein?
Das ist schwierig aus der Ferne zu beurteilen. Dass die Zahlen wenige Tage nach dem Erdbeben stark variieren, sollte zunächst nicht verwundern. Untersuchungen zeigen, dass erst nach zwei Tagen ca. 50% der Toten festgestellt werden.
Je mehr Zeit vergeht, desto verlässlicher werden dann auch die Zahlen, und Medienberichte kurz nach einem Ereignis muss man unter Berücksichtigung dieser Unsicherheiten beurteilen. Vor diesem Hintergrund verwundert es jedoch etwas, dass die offizielle Zahl bei 126 Opfern liegt, denn das ist die Zahl, die am 8. Januar, also einem Tag nach dem Erdbeben, verkündet wurde.
Welche Auswirkungen hatte das Beben etwa auf Staudämme? Und welchen Einfluss können Staudämme in Tibet auf das Auftreten von Erdbeben haben? Welche Konsequenzen müsste eine verantwortungsvolle Politik für eine derart seismisch aktive Region ableiten?
Staudämme sind bei Erdbeben stets gefährdet, auch wenn sie, je nach Größe, für unterschiedliche Bemessungserdbeben ausgelegt sind. Dass kleinere Schäden wie Risse an Wasserkraftwerken beobachtet werden konnte, ist jedoch nicht verwunderlich. Solange sich die Kraftwerke nicht in sehr steilem Terrain befinden, so würde ich meist von einer relativ geringen Gefährdung ausgehen.
Blick auf das Wasserkraftwerk Tapovan am Dhauliganga-Fluss, Indien. Das Kraftwerk wurde 2021 durch ein Hochwasser zerstört. (Foto: privat)
Kritischer wird es, wenn Erdbeben weitere Prozesse wie Hangrutschungen, Gletscherseeausbrüche oder Murgänge auslösen. Diese Prozesse treten besonders in steilem Gelände statt und können für Wasserkraftwerke weitaus gefährlicher werden.
Gleichzeitig können sehr große Reservoirs und schwankende Wasserspiegel auch Spannungen in der Erdkruste bedingen. Staudämme können also selbst Beben auslösen, man spricht dann von induzierter Seismizität. Diese ist zwar meist relativ gering, kann aber auch stark sein, wie etwa das Koyna-Erdbeben in Indien mit einer Magnitude von 6,3 gezeigt hat.
Eine verantwortungsvolle Politik muss dieses Gefährdungspotenzial kennen und bei der Planung berücksichtigen. Aber nicht nur das. Wasserkraftausbau ist ein ziemlich komplexes Unterfangen, bei dem die Interessen vieler Betroffener beachtet werden müssen.
Der ICT-Bericht „Chinese Hydropower“ hat ja erst kürzlich gezeigt, dass auch tibetische Kulturgüter durch den Wasserkraftausbau zerstört werden. Das zeigt mir, dass gerade China nicht oder nur unzureichend eine Wasserkraftstrategie verfolgt, die alle Interessen berücksichtigt.
Wie denken Sie im Hinblick dessen über den Medog-Staudamm, der ja im Falle seiner Fertigstellung das mit Abstand größte Wasserkraftprojekt der Welt wäre? Welche Risiken sehen Sie damit verbunden?
Der Medog-Staudamm soll im Oberlauf des Yarlung Tsangpo gebaut werden und bis zu drei Mal so viel Strom wie der Drei-Schluchten-Damm produzieren. Das erreicht man durch eine gigantische Druckhöhe von ca. 2000 m bei gleichzeitig hohen Abflussraten. Zudem wird der Staudamm vermutlich bis zu 160 m hoch und kann so ein riesiges Reservoir aufstauen, das wahrscheinlich jahreszeitliche Abflussschwankungen ausgleichen können wird.
Man greift so also stark in das Abflussgeschehen im Unterlauf ein, was wiederum ökologische und längerfristige Auswirkungen wie z.B. eine geänderte Sedimentdynamik haben wird. Der Ort des Damms ist zudem aus geologischer und geomorphologischer Sicht kritisch zu beurteilen. Er liegt direkt am Namche Barwa Massiv, einem der sich am schnellsten hebenden Gebiete des Himalaja. Hier treffen hohe seismische Aktivität und steiles Relief aufeinander, und das Naturgefahrenpotenzial ist dementsprechend hoch.
Dr. Wolfgang Schwanghart vor dem Satopanth-Gletscher nahe dem indischen Pilgerort Badrinath. (Foto: privat)
Nicht zuletzt ist aber auch die Lage nahe der Line of Actual Control und der Eingriff in den transnationalen Fluss geopolitisch hochriskant. Aus verschiedenen Perspektiven ist der Bau dieses Wasserkraftwerks also sehr risikobehaftet. Leider wurde das Projekt nun anscheinend genehmigt, was ich sehr bedaure.
Herzlichen Dank, lieber Herr Dr. Schwanghart, für dieses sehr interessante Interview.