Ohne Schutz der Menschenrechte ist der Erhalt der Biodiversität in Tibet nicht gewährleistet

Quelle: ITN

Die UN-Biodiversitätskonferenz COP15 hat am 7. Dezember in Montreal, Kanada, begonnen. Sie sollte ursprünglich unter chinesischer Präsidentschaft in Kunming, China, stattfinden, wurde jedoch aufgrund strenger COVID-Beschränkungen in China sowie Verzögerungen im ambitionierten Verhandlungsprozess verlegt.

Auch wenn die Biodiversitätskonferenz weniger Aufsehen erregt als ihr Pendant zum Klimawandel, ist dieses 15. Treffen der Unterzeichnerstaaten ein wichtiges Ereignis. Vorgesehen ist dabei die Erarbeitung eines globalen Rahmens für die Erhaltung der biologischen Vielfalt nach 2030 mit ehrgeizig gesteckten Zielen und Indikatoren. Biodiversität ist deshalb von entscheidender Bedeutung, weil sie ein Maß für die globale Umweltgesundheit und Widerstandsfähigkeit festlegt – etwas, das wir brauchen werden, wenn wir dem zunehmenden Druck des Klimawandels ausgesetzt sind.

Bei den Verhandlungen gibt es viele unterschiedliche Standpunkte. Besorgt sind wir, dass die von einigen vorgeschlagenen Mittel zur Zielerreichung ungeeignet sind, um einen effektiven Schutz der Artenvielfalt sicherzustellen, da sie den Faktor Menschenrechte ausklammern. Jede Lösung für den Erhalt der Biodiversität sollte immer den Schutz von Menschenrechten beinhalten. Das umfasst das Recht auf Information, das Recht auf Konsultation und das Recht auf Beteiligung. Im Fall von Rechtsverletzungen muss der Rechtsweg offenstehen, und Betroffene müssen die Möglichkeit haben, in einem rechtsstaatlichen Verfahren ihre Beteiligungsrechte einzufordern oder zumindest Entschädigungen für bereits erfolgte Rechtsverletzungen zu erhalten.

Bislang sind diese Forderungen noch nicht zu allen handelnden Akteuren durchgedrungen. Im Gegenteil: Für viele scheinen Menschenrechte nichts mit dem Thema Biodiversität zu tun zu haben. Sie werden als isoliertes politisches Thema oder als Ablenkung abgetan.

Darlegen möchte ich, wie der Schutz der Menschenrechte eine Alternative für den Erhalt der biologischen Vielfalt in Tibet bieten kann, eine, die es wert ist, weiterverfolgt zu werden. Gerade ein Blick nach Tibet ermöglicht uns ein Gegenbeispiel, ein alternatives Konzept, das das herkömmliche, isolierte Denken ablösen sollte.

Menschenrechtsschutz und echte Beteiligung stärken und aktivieren eine Gemeinschaft, deren Wohlergehen eng mit regionaler Artenvielfalt verbunden ist. Ich hoffe, anhand des Gegenbeispiels zu zeigen, warum es genauso wichtig ist, die Standards für die Methodik, für die Mittel festzulegen und nicht nur die Ziele des Biodiversitätsschutzes. Die Erkenntnisse daraus werden nicht nur für die Biodiversität relevant sein, sondern auch für mögliche Antworten auf den Klimawandel.

Tibeter als ökologische Natives und Umweltschützer?

Zunächst ist mir wichtig, die Tibeter nicht als idealisierte „ökologische Natives“ oder natürliche „Umweltkrieger“ darzustellen. Tibeter, die tibetische Kultur und der tibetische Buddhismus können und sollten nicht darauf reduziert werden, um einem extern definierten Umweltkriterium zu entsprechen, das als beachtens- und unterstützenswert gesehen wird. Noch wichtiger ist, dass westliche Konzepte von Ökologie, Umweltschutz und Klimawandel nicht gut zum tibetischen Weltbild oder zum Vokabular passen, das die Tibeter verwenden, wenn sie sich mit Umweltfragen befassen. Tibeter sind hingegen umweltbewusst und vertraut mit kosmologischen und normativen Rahmenbedingungen, die nicht verloren gehen sollten, und gerade deshalb besitzen sie die Fähigkeit, nachhaltige Konzepte für ihr Heimatland zu entwerfen. Dazu möchte ich einige der Konzepte der tibetischen Weltanschauung und Religion herausarbeiten, um zu zeigen, warum es für Tibets Umwelt so wichtig ist, dass sich die Tibeter ohne Angst zu ihr äußern und sich für sie engagieren können.

Tibetische Kosmologie: Sich gegenseitig stützende Beziehung zu Natur und Gottheiten der Landschaft

Kosmologie beinhaltet, wie wir unsere Schöpfung und unsere Beziehung zur Natur und zum Universum verstehen. Die Tibeter haben eine Kosmologie, die auf dem Konzept des „Behälters und seines Inhalts“ basiert. Der Behälter ist die Welt, und die fühlenden Wesen sind der Inhalt oder die Bewohner. Während die Tibeter diese Analogie zum Teil auf leicht unterschiedliche Weise interpretieren, besteht die Essenz darin, dass der Behälter und sein Inhalt in einer voneinander abhängigen Beziehung existieren.

Darüber hinaus bewohnen weltliche Territorialgeister und Gottheiten, wie Seen, Berge und Flüsse die Naturlandschaften. Diese Geister haben Entscheidungsfreiheit und können sowohl wohlwollend (Schutz und Wohlstand bietend) als auch zornig (Naturkatastrophen und anderes Unglück auslösend) sein, basierend auf dem Verhalten von Einheimischen oder der Gemeinschaft. Mit dieser Weltanschauung leben die Tibeter in einer sich gegenseitig stützenden Beziehung zur Natur und den Gottheiten ihres Heimatlandes. Diese Kosmologie ist mit dem Buddhismus in Tibet und seinen indigenen Traditionen verwurzelt.

Gemäß dieser Sichtweise wird das gesamte Land als wichtig betrachtet, wobei heilige Stätten als besonders bedeutend angesehen werden. Um dies zu veranschaulichen, ziehen einige Tibeter eine Analogie zum Körper und seinen Organen und argumentieren, dass die Verletzung eines heiligen Berges der Verletzung eines kritischen Organs wie dem Herzen oder dem Gehirn ähnelt. In Kombination mit der wechselseitigen Beziehung zwischen dem Behälter und seinem Inhalt beschreibt ein älterer tibetischer Hirte, dass „das Schürfen von Gold aus dem Berg so ist, als würde man mir das Herz aus dem Körper reißen.“

Tibetischer Buddhismus

Der Buddhismus kam im siebten Jahrhundert unter der Herrschaft von König Songtsen Gampo nach Tibet und ist seitdem zur dominierenden Religion der tibetischen Gesellschaft geworden. Die buddhistischen Prinzipien von Nicht-Selbst, Interdependenz, Mitgefühl, Nicht-Verletzen und Karma haben die tibetischen Sichtweisen und Herangehensweisen an die natürliche Umwelt, insbesondere im Umgang mit Lebewesen, maßgeblich geprägt.

Während diese Konzepte eine umfassendere buddhistische Umweltphilosophie oder -ethik prägen, gibt es keine einheitliche Definition der buddhistischen Umweltphilosophie. Infolgedessen kann es zu Abweichungen bei der Interpretation buddhistischer Prinzipien im Umweltkontext kommen. Zum Beispiel kann, wie Emily Yeh betont, das buddhistische Gesetz über Ursache und Wirkung und insbesondere das Karma-Konzept die Umweltzerstörung als Frucht des vergangenen individuellen und gemeinschaftlichen Karmas behandeln, das über unendliche Lebenszeiten hinweg nur durch Verbesserung des eigenen Geistes und des eigenen Verhaltens korrigiert werden kann. Ausgehend von dieser Logik könnte sich ein Individuum für ein spirituelles Leben entscheiden, das auch anderen dient, mit dem Ziel, künftigen Generationen zu nützen, anstatt sich in der Gegenwart an unmittelbaren Eingriffen in die Umwelt zu beteiligen.

Erhalt der Biodiversität

Maßgebliche Voraussetzungen für den Erhalt der Biodiversität sind ein Volk, das die Fähigkeit dazu besitzt, und eine Kultur, die im Umweltbewusstsein verwurzelt ist. Wäre also der Schutz der Menschenrechte vertraglich durch einen globalen Rahmen für die Erhaltung der biologischen Vielfalt gesichert, wie könnten die Tibeter im Sinne ihrer Kosmologie und buddhistischen Religion zum Erhalt der Biodiversität beitragen? Ein erfolgreiches Beispiel dafür ist der Umgang mit heiligen Stätten.

Heilige Landschaften

Lokale tibetische Gemeinschaften oder Klöster haben bereits die Initiative ergriffen, heilige Stätten zu verwalten, wobei einige sogar gesetzliche Rechte durch kommunale Erhaltungsvereinbarungen ausgehandelt hatten. Durch die Gründung von Umweltverbänden, NGOs oder die Arbeit bestehender klösterlicher Institutionen haben Tibeter heilige Stätten geschützt, indem sie sich an Aktivitäten wie der Überwachung und Regulierung von Jagd, Fischerei, Holzeinschlag, Bergbau, Weiden oder Ernten beteiligt haben. Einige haben auch die lokale Flora und Fauna katalogisiert und überwacht, Bäume neu gepflanzt und die Abfallbeseitigung sowie Maßnahmen zur Umwelterziehung in der Gemeinde organisiert. Viele haben zunächst mit der Pflege heiliger Stätten begonnen und ihre Arbeit dann auf andere Landschaften ausgeweitet. Das Besondere an ihrem Ansatz ist, dass die Tibeter nicht bestimmten Tieren Priorität gegenüber anderen einräumen oder etwa umweltgerechtes Verhalten durch eine finanzielle Belohnung erreichen wollen.

Tibetische Umweltschützer haben festgestellt, dass es für den Umweltschutz nützlich ist, sich auf die tibetische Kosmologie, Kultur und den Buddhismus zu stützen, da diese traditionellen Rahmenbedingungen die Regeln der menschlichen Nutzung der Natur prägen und den Umweltschutz eher zu einer ethischen, als zu einer wirtschaftlichen Angelegenheit machen. Dabei schaffen sie eine Kultur der Selbstüberwachung und Rechenschaftspflicht.

Menschenrechte: Eine Voraussetzung

Für Tibeter in Tibet, die sich mit Umweltfragen befassen, war klar, dass das kulturelle Überleben Tibets, religiöse Kontinuität und ökologische Gesundheit untrennbar miteinander verbunden sind. Ebenso wichtig ist jedoch die Erkenntnis, dass Menschenrechte die Grundvoraussetzung für all dies sind.

Ein Beispiel dafür ist Rinchen Samdup, der sich auf die tibetische Kultur und Religion stützte, um seine Gemeinde gegen illegale Wilderei und Entwaldung in seiner Heimatregion zu mobilisieren. Im Jahr 2003 gründete Rinchen zusammen mit seinem Bruder Karma Samdup und seinem Freund Tador eine Umweltgruppe mit mehr als 1.000 Mitgliedern aus elf Weilern. Sie erstellten eine detaillierte Liste mit Regeln, legten Bußgelder für die Jagd und Fischerei in ihrem Gemeindegebiet fest und entwickelten Pläne für die Aufforstung, die in den ersten zwei Jahren die Pflanzung einer halben Million Bäume wie Sanddorn, Fichten und Pappeln vorsah. Sie organisierten auch kommunale Müllsammelaktionen, Wildtierpatrouillen und -überwachung sowie Informationsveranstaltungen für den Umweltschutz, einschließlich der Veröffentlichung einer Umweltschutzzeitschrift.

Rinchen gründete später zusammen mit seinen Brüdern Karma Samdup und Chime Namgyal die „Three Rivers Environmental Protection Group“. Obwohl Rinchen und Chime als preisgekrönte Umweltaktivisten anerkannt wurden, wurden sie im August 2009 festgenommen, weil sie einen örtlichen Polizeichef kritisiert hatten, der gefährdete Arten in einem tibetischen Naturschutzgebiet jagte. Rinchen wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, während Chime zu 21 Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Karma, der sich für ihre Freilassung einsetzte, wurde am 3. Januar 2010 festgenommen und anschließend zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Er soll 2025 entlassen werden.

Obwohl Wissen und Erfahrung der Tibeter im Umgang mit dem sensiblen Ökosystem Tibets unverzichtbar sind, werden tibetische Umweltverteidiger von der chinesischen Regierung systematisch verfolgt, wie auch ein im Juni 2022 von ICT veröffentlichter Bericht verdeutlicht. Doch solange die Menschenrechte nicht geschützt werden, sind sinnvolle Umweltschutzarbeit und der Erhalt der Biodiversität in Tibet nicht gewährleistet.

Autorin: Palmo Tenzin, International Campaign for Tibet, übersetzt aus dem Englischen

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