«Wie China
die tibetische
Kultur auslöscht»
Foto: Dr. Gyal Lo
Die „New York Times“ hat einen umfangreichen und schockierenden Bericht über Chinas System von Zwangsinternaten in Tibet veröffentlicht. Dieser zeichnet ein beunruhigendes Bild der schweren psychischen, emotionalen und körperlichen Schäden, die einer ganzen Generation tibetischer Kinder in Chinas Internatsschulen zugefügt werden. Der Multimedia-Sonderbeitrag enthält zahlreiche Fotos und Videos, die dokumentieren, wie tibetische Kinder politischer Indoktrination und Misshandlung ausgesetzt sind.
Der Bericht der angesehenen Zeitung belegt eindrücklich die Aussagen tibetischer Aktivisten und Menschenrechtsexperten, die für die Vereinten Nationen arbeiten. Er zeigt, wie die in Peking herrschende Kommunistische Partei Chinas tibetische Kinder systematisch von ihren Familien trennt, um ihre tibetische Identität auszulöschen.
Mit allen Mitteln will die KP die Weitergabe von Tibets Kultur, Sprache und Tradition an die junge Generation verhindern. Stattdessen soll eine ganze Generation von Tibetern zwangsweise assimiliert und zu Chinesen gemacht werden.
Lob Chinas und der KP, Verächtlichmachung von Tibets Kultur und Sprache
Der Unterricht findet fast ausschließlich auf Chinesisch statt, Tibetisch wird allenfalls und nur in geringem Umfang wie eine Fremdsprache vermittelt. Großer Wert wird hingegen auf politische Indoktrination mit der KP-Ideologie gelegt.
„Ich vergleiche die Kommunistische Partei mit meiner Mutter.“ Eine Schülerin des Internats der Chugqensumdo Grundschule singt ein Lied für die KP. (Quelle: Tencent Video/NYT)
So müssen schon kleine Kinder Zeichnungen anfertigen, die Chinas Herrschaft über Tibet feiern, und Lieder singen, die die Kommunistischen Partei Chinas lobpreisen. Die tibetische Kultur und Sprache werden in den chinesischen Schulen hingegen verächtlich gemacht, wie ein Video mit dem Titel „Sei eine zivilisierte Person, sprich Mandarin“ belegt.
Gewalt gegen Schüler
Nicht selten kommt es in den chinesischen Internaten auch zu Gewalt gegen Schüler. So zeichnete eine Überwachungskamera im Jahr 2021 auf, wie ein Grundschullehrer ein Kind mit einem Stuhl schlug. Der Vorfall wurde mehr als 1.000-mal in den sozialen Medien geteilt, bevor er von der chinesischen Internetzensur gelöscht wurde. Die Schläge hinterließen Berichten zufolge eine 7,5 cm lange Wunde auf der Stirn des Kindes.
Ein 16-jähriger Schüler aus einem Dorf im Osten von Tibet berichtete der „New York Times“, dass in dem von ihm besuchten Internat Schläge durch Lehrer „an der Tagesordnung“ seien. Er habe auf seinem Rücken mehrere Narben von Schlägen, die ihm „manchmal mit der Hand und manchmal mit einem Holzlineal“ verabreicht worden seien.
Die „New York Times“ hat im Rahmen ihrer Recherchen nach eigenen Angaben hunderte Videos untersucht und analysiert, die von Chinas Zwangsinternaten auf chinesischen Social-Media-Seiten veröffentlicht wurden. Hinzu kommen die Auftritte staatlicher Medien und lokaler Propagandaabteilungen in sozialen Medien.
Eltern haben keine Wahl
Die Zeitung sprach mit tibetischen Eltern, deren Kinder im Grundschulalter in Internatsschulen untergebracht sind. Diese sagten, dass sie keine andere Wahl hätten und ihre Kinder nicht nach Belieben besuchen dürften.
Betont werden Warnungen vor psychischen und emotionalen Schäden durch die Trennung tibetischer Kinder von ihren Familien und die Unterbringung in den Internaten; hinzu kommt das Risiko von Misshandlung.
Mindestens 100.000 Kinder im Alter von 4 bis 6 Jahren sollen in Vorschulinternaten untergebracht sein. (Quelle: Screenshot NYT)
Die Folgen dieser Praxis haben sich in den letzten Jahren weiter verschärft, seit das Internatssystem auf die Vorschule ausgeweitet wurde. Schätzungen zufolge sind mindestens 100.000 Kinder im Alter von 4 bis 6 Jahren in Vorschulinternaten untergebracht. Insgesamt sollen circa eine Million tibetische Kinder zum Besuch der chinesischen Internate gezwungen sein, die „New York Times“ spricht von etwa drei Vierteln aller tibetischen Schüler.
„New York Times“ stützt sich auch auf tibetischen Experten
Eine wichtige Quelle der Zeitung war der tibetische Bildungsforscher Dr. Gyal Lo, der international als führender Experte für Pekings System von Zwangsinternaten in Tibet gilt. Auch die International Campaign for Tibet arbeitet schon seit Jahren mit ihm zusammen.
So konnte ICT Deutschland ihn bereits im Juni 2022 in den Deutschen Bundestag begleiten, wo er den Mitgliedern der Parlamentsgruppe Tibet einen Überblick über die Lage verschaffte. Auch unsere ICT-Kollegen in den Niederlanden und Belgien unterstützten Dr. Gyal Lo bei seinen Gesprächen mit Parlamenten, politischen Entscheidern und Medienvertretern.
In Pekings Zwangsinternaten werden alle Fächer auf Chinesisch unterrichtet. (Quelle: Qinghai Daily/Douyin)
Im Jahr 2016 wurde der Experte für die „gestohlenen Kinder Tibets“ persönlich Zeuge der Auswirkungen von Chinas Assimilationspolitik auf seine eigenen Großnichten. Nach nur drei Monaten Besuch einer Internatsvorschule begannen diese, miteinander auf Chinesisch zu kommunizieren und sich emotional von ihrer Familie zu entfernen.
Entsetzt über diese Situation unternahm Dr. Gyal Lo eine wissenschaftliche Feldforschung, um deren Auswirkungen auf die Kinder und ihre Gemeinden zu dokumentieren. In den folgenden drei Jahren besuchte er mehr als 50 solcher Schulen und stellte fest, dass viele tibetische Schüler nur wenig in ihrer Muttersprache sprachen und ihre Eltern manchmal nur alle paar Wochen oder sogar Monate sehen konnten.
Peking ignoriert die weltweite Kritik
Ungeachtet der massiven Kritik aus aller Welt ist Peking offenbar entschlossen, das System der chinesischen Zwangsinternate in Tibet weiter auszubauen. Bekanntlich fordern sowohl die deutsche Bundesregierung, als auch das Europaparlament sowie weitere Staaten etwa im Rahmen des UN-Menschenrechtsrats China auf, die Internate zu schließen. Die Forderungen fußen auf der seit Jahren anhaltenden fundamentalen Kritik von internationalen Experten und Menschenrechtsorganisationen.
Es bleibt zu hoffen, dass der fundierte und exzellente Bericht der „New York Times“ dazu beiträgt, die Kritik an Chinas Zwangsinternaten in Tibet so weit zu verstärken, dass die chinesische Führung sich einer ernsthaften Debatte nicht länger wird verweigern können. ICT wird alles daran setzen, dieses Ziel zu erreichen.