Die Kulturrevolution war
in Tibet von Anfang an
anders als in China
Foto: Tsering Dorje/Woeser

In einem weiteren Beitrag zu Chinas neuer Kulturrevolution in Tibet widmen wir uns diesem schillernden Begriff selbst. Während das Phänomen Kulturrevolution in China in der Regel auf die Jahre 1966 bis 1976 beschränkt wird – also den zehn Jahren der sogenannten „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ – so liegt die Sache in Tibet deutlich anders. Diesen Unterschieden wollen wir hier auf den Grund gehen.
An dieser Stelle werden wir in der Zukunft weitere Beiträge zu Einzelaspekten von Chinas neuer Kulturrevolution in Tibet veröffentlichen.
Hört man heute das Wort Kulturrevolution, kann dies vor allem bei den Älteren starke Assoziationen hervorrufen. Es erscheinen Bilder in schwarz-weiß, versehen mit harten Kontrasten. Man sieht junge Rotgardisten mit verzerrten Gesichtern, die fahnenschwenkend durch die Straßen paradieren.
Großformatige Plakate mit dem Bildnis des obersten KP-Machthabers Mao Zedong gehören ebenso dazu wie zerstörte Tempel, Geschäfte und andere Symbole der traditionellen Kultur. Und nicht zuletzt sieht man Menschen, die als sogenannte Klassenfeinde oder Vertreter der alten Ordnung öffentlich erniedrigt und gepeinigt werden. Nicht wenige von ihnen fanden bei diesen „Kampfsitzungen“ den Tod oder waren für den Rest ihres Lebens davon gezeichnet.
In China entfachte der oberste KP-Machthaber Mao Zedong selbst die „Große Proletarische Kulturrevolution“, um seine Position in der Partei zu festigen. Fraktionen innerhalb der herrschenden Kommunistischen Partei bekämpften einander gut zehn Jahre lang bis zu Maos Tod im Jahr 1976.
Mao-Kult und Rote Garden
Vordergründig ging es um die Beseitigung der sogenannten „vier alten Übel“ (Alte Ideen, alte Kultur, alte Gewohnheiten und alte Bräuche). Mao setzte dabei vor allem auf die Roten Garden, junge Menschen, die ihm blind ergeben waren und seinen Anweisungen bedingungslos Folge leisteten.
Mao ermutigte die Rotgardisten gegen alle Autoritäten zu rebellieren, gleich ob Professoren, Lehrer und sogar die eigenen Eltern. Die Jahre der Kulturrevolution waren zugleich auch die Hochphase des Personenkults um Mao. Skrupellos nutzte der KP-Chef den Idealismus der jungen Menschen für seine Zwecke aus.
In Tibet war es anders
All dies fand auch in Tibet statt – und ist doch höchstens die halbe Wahrheit. Tatsächlich war die Kulturrevolution in Tibet von Anfang an anders als in China. Für die Tibeter war die Kulturrevolution ein Import aus China.
So kann es nicht verwundern, dass in Frank Dikötters Standardwerk zur Kulturrevolution („Mao und seine verlorenen Kinder“) Tibet praktisch überhaupt keine Rolle spielt. Im Kern blieb sie eine innerchinesische Angelegenheit, die aufgrund der von Mao entfachten Dynamik jedoch auch Tibet erfassen musste.
Es ist daher sinnvoll, den Begriff der Kulturrevolution für Tibet breiter und eher im Wortsinn zu verstehen: Als tiefgreifende kulturelle und religiöse Umwälzung mit dem Ziel der vollständigen Assimilation der Tibeter an die chinesische sozialistische Gesellschaft.
In Tibet begann die Kulturrevolution schon früher
Nicht übersehen werden darf dabei, dass Peking in Tibet bereits wesentlich früher eine Kulturrevolution initiiert hatte. Nach dem gescheiterten Volksaufstand vom 10. März 1959 und der erzwungenen Flucht des Dalai Lama ließen die chinesischen Machthaber auch die letzten Reste von Zurückhaltung fallen und führten eine rücksichtslose Kampagne mit dem Ziel, die tibetische Identität zu zerstören.
Schon vor Beginn der sogenannten Großen Proletarischen Kulturrevolution waren in Tibet zahlreiche Klöster und Tempel zerstört worden. Mönche und Nonnen wurden gezwungen zu heiraten oder in Arbeitslager geschickt, religiöse Texte und Bücher wurden verbrannt oder anderweitig vernichtet. Religiöse Praktiken wie das Verbrennen von Weihrauch oder das Umrunden von heiligen Stätten wurden verboten.
Im Jahr 1966 kam dann der Totalangriff auf die erhalten geblieben Reste der tibetischen Kultur. Der renommierte tibetische Historiker Tsering Shakya schreibt darüber in seinem Buch „The Dragon in the Land of Snows“, einer Geschichte des modernen Tibet seit 1947.
Totale Assimilation: Zerstörung der tibetischen Identität
Die Kulturrevolution, so Shakya, „sollte verheerende Auswirkungen auf die tibetische Kultur haben. In jedem Dorf wurde die Bevölkerung mobilisiert, um religiöse und kulturelle Artefakte zu zerstören. Die Familien wurden gezwungen, alle religiösen Gegenstände aus ihren Häusern zu entfernen.“
Besonders im Visier der entfesselten Roten Garden war alles Religiöse: „Die größten Denkmäler Tibets – die drei Klöster Sera, Drepung und Gaden, die den Hort der tibetischen Gelehrsamkeit bildeten – wurden nicht verschont. Jahrhundertealte religiöse Gegenstände wurden zertrümmert, und alle Kupfer-, Bronze-, Silber- und Goldgegenstände wurden sorgfältig beschriftet, entfernt und nach China transportiert.“
„Die heiligste Statue, die Jo Atisha in Tsuglakhang, wurde zerstört. Die Narben, die der Feldzug gegen die ‚Vier Alten Übel‘ hinterließ, sind noch heute an den Ruinen von Klöstern und Tempeln zu sehen, die überall in Tibet stehen“, schrieb der Historiker bei Erscheinen seines Buchs im Jahr 1999.
Shakyas Fazit: „Dies hatte zur Folge, dass die eigenständige Identität Tibets zerstört wurde. Die Chinesen propagierten nun eine Politik der totalen Assimilation, und die tibetische Identität wurde allein auf die Sprache reduziert, obwohl selbst diese unter Beschuss geraten war.“
Die Kulturrevolution kehrt zurück
Auf Maos Tod folgte in China eine Phase der relativen Liberalisierung, die schließlich auch in Tibet die Menschen wieder etwas aufatmen ließ. Einige der zerstörten Klöster und Tempel konnten zumindest in Teilen wieder aufgebaut werden. Die Tibeter nutzten klug jeden noch so kleinen Freiraum, um die Zerstörungen so gut es ging zu reparieren.
Peking setzte weiterhin auf Unterdrückung, an den Grundlinien der Politik hatte sich nichts geändert. Und doch kam es zu einem Wiederaufleben der tibetischen Kultur. Die chinesischen Machthaber duldeten dies zumindest so lange, wie sie ihre Herrschaft dadurch nicht in Frage gestellt sahen. Doch spätestens seit der Machtübernahme durch Xi Jinping hat sich die Lage deutlich verschlechtert. Mehr und mehr zeigt sich: Die Kulturrevolution ist zurück, wenn auch in veränderter Gestalt.
Neue Kulturrevolution mit subtileren Formen der Unterdrückung
Im Vordergrund steht nun nicht länger brutale Zerstörung, auch wenn es sie immer noch gibt. Im Vordergrund stehen nun subtilere Formen der Unterdrückung; Pekings neue Kulturrevolution arbeitet stärker mit einer Kombination aus Druck, Indoktrination und Anreizen. Wichtige Instrumente sind Schulen und Universitäten; so werden mittlerweile schon Kindergartenkinder mit kommunistischer Ideologie indoktriniert.
Kinder des Lhasa Jiangsu-Experimentalkindergartens bei der Flaggenzeremonie zu Beginn des neuen Schuljahrs im März 2023. (Quelle: tibet.cn)
Besonders dramatische Auswirkungen auf die Weitergabe von Sprache und Kultur hat das System der chinesischen Zwangsinternate in Tibet, über das die „New York Times“ kürzlich umfassend berichtete. In manchen dieser Internate sollen „gefängnisähnliche Bedingungen“ herrschen, wie tibetische Quellen berichten.
Die Machthaber wollen sogar den tibetischen Buddhismus vollständig transformieren und zu einem Instrument ihrer Herrschaft umbauen. Dies zeigt sich etwa im Umgang mit den Mönchen des Panchen Lama-Klosters Tashi Lhunpo, die verpflichtend an regelmäßigen Propaganda-Schulungen teilnehmen müssen.
Oder an den neu überarbeiteten „Maßnahmen für die Verwaltung tibetischer buddhistischer Tempel“. Diese verpflichten Klöster und Geistliche dazu, der KP Treue zu schwören und die „Anpassung des tibetischen Buddhismus an die sozialistische Gesellschaft zu fördern“.
Tibeter haben erstaunliche Resilienz bewiesen
Mehr denn je sollen die Tibeter assimiliert und zu Chinesen gemacht werden. Doch muss dies nicht gelingen. Denn der Blick auf die erste Kulturrevolution kann auch Mut machen. Im Rückblick haben die Tibeter eine erstaunliche Resilienz bewiesen und ihre Kultur, ihre Religion und ihre Sprache selbst in langen Jahren brutaler Unterdrückung bewahren können. So bleibt die Hoffnung, dass Peking auch diesmal sein Ziel nicht erreicht.
Die internationale Gemeinschaft muss Druck auf die chinesischen Machthaber ausüben und von Peking verlangen, die Rechte der Tibeter zu respektieren. ICT setzt alles daran, Staaten und internationale Gremien an ihre Verantwortung zu erinnern. Wir müssen die Tibeter darin unterstützen, ihre einzigartige Kultur, Sprache und Religion zu erhalten.
* Das Bild ganz oben zeigt eine Nonne, die eine sogenannte „Kampfsitzung“ erdulden muss. (Foto: Tsering Dorje/Woeser)
Autor: Martin Reiner, International Campaign for Tibet